Kategorie: Englische Gegenwart

Paul Lynch, „Das Lied des Propheten“

Viel zu viel Lob…

„Das Buch der Stunde“ … „zentrales Buch für unsere Zeit“ … „politischer Warnruf“ … „beklemmend, intensiv, atemberaubend“ – Kritik, Presse und Rezensionen sind überwiegend begeistert von Paul Lynchs neuem Roman „Das Lied des Propheten„, 2023 erschienen und 2024 durch Eike Schönfeld im Klett-Cotta Verlag übersetzt – eine Beurteilung, die viel zu einfach und zu oberflächlich gefällt wird und der ich mich nicht anschließen kann. Doch eins nach dem anderen.

Kurz gefasst der Inhalt

Der etwa 300 Seiten umfassende Roman spielt im Irland der Gegenwart, das in die Tyrannei abdriftet. Eines Abends stehen zwei Geheimdienstagenten, sogenannte Gardas, vor der Tür der vierfachen Mutter Eilish Stack und verlangen ihren Mann Larry, Lehrer und Gewerkschafter, zu sprechen, der jedoch nicht zu Hause ist. Wenige Tage nach diesem Ereignis verschwindet Larry spurlos und Eilishs Welt gerät aus den Fugen. Zunächst sucht sie noch nach ihrem Ehemann, doch mit jedem Tag wird ihr Leben schwerer und sie verliert zunächst einen Sohn an die Rebellen und schließlich einen weiteren Sohn durch die Folter der Geheimpolizei. Sie verliert ihre Arbeit, ihre Familie, ihr soziales Umfeld, ihr Zuhause, ihren Vater an Demenz und bevor sie alle Hoffnung verliert endet das Buch damit, dass sie mit ihren zwei verbliebenen Kindern in ein Schlauchboot steigt, um die Flucht aus Irland anzutreten.

Was fehlt

Soweit kurz zusammengefaßt der Inhalt des Buchs. Und genauso lückenhaft wie diese Zusammenfassung ist auch der Roman selber. Viele Dinge erschließen sich dem Leser überhaupt nicht. So wird zum Beispiel der zweitälteste Sohn von einem Granatsplitter getroffen, soll operiert werden und wird später als tödliches Opfer der Folter der Geheimpolizei von der Mutter identifiziert – das ist nicht stimmig, da fehlt etwas, denn jede Tyrannei folgt einer Logik, die willkürlich erscheint, jedoch einer Kausalkette zugrunde liegt, die uns Paul Lynch hier einfach verschweigt. Ein anderes Beispiel wäre die Hochzeitsszene: Eilish ist zu Beginn des Romans zur Hochzeit ihrer Cousine eingeladen und dort stehen alle Festgäste, außer Eilish Stack, auf und singen stolz die Nationalhymne anstelle emotionale Hochzeitsreden zu halten. Aber wie es es dazu kommt? Auch das verschweigt Paul Lynch. Und genau das könnte einen Roman zu einem „Buch der Stunde“ machen, wenn er nämlich ein mögliches Szenario darstellte, wie plötzlich Tausende oder Millionen Menschen zu Opportunisten werden können, wie Regime entstehen können. Aber genau zu diesem Punkt schweigt der Autor und macht es sich damit viel zu einfach.

Schlecht ist der Roman gewiss nicht, doch das übertriebene Lob und die zahlreichen Superlative hat er gewiss ebenso wenig verdient. Bemerkenswert ist immerhin die Sprache und formale Gestaltung von Paul Lynch. Der Roman ist komplett im Präsenz geschrieben, es gibt keine Umbrüche und die direkte Rede ist direkt und ohne Anführungszeichen oder ähnlichem in den Fließtext eingebettet. Das macht die Sprache und die Erzählung schnell und der Leser wird geradezu eingesogen in die Geschichte, die auch durchaus spannend zu lesen ist.

Mein Fazit

Wer „Das Lied des Propheten“ liest erhält gute, spannende Unterhaltung, aber keine tiefgründigen oder neuen Erkenntnisse. Wer den Roman nicht liest, braucht keine Angst zu haben, irgendetwas verpasst zu haben.

Wer darf Hemingway übersetzen?

Eine der am weitesten verbreiteten deutsche Ausgaben von Ernest Hemingway ist sicherlich Ernest Hemingway, Gesammelte Werke in 10 Bänden aus dem Rowohlt Taschenbuchverlag. Diese erschien 1977 und die meisten Werke hierin in der „einzig autorisierten Übertragung aus dem Amerikanischen von Annemarie Horschitz-Horst“.

Annemarie Horschitz-Horst (1899 – 1970) war die einzige von Ernest Hemingway autorisierte deutsche Übersetzerin. Schon zu Lebzeiten Hemingways wurde bei ihm angefragt, ob andere Übersetzer seine Werke übersetzen dürften, doch lehnte dies Hemingway bis zu seinem Tod im Jahr 1961 kategorisch ab. Hierfür gab es aus Sicht des Schriftstellers ja auch gar keinen Grund, denn der Verkauf seiner Bücher im deutschsprachigen Raum lief sehr gut.

Doch die Übersetzungen waren in der Literatur- und Kritikerwelt nicht unumstritten, so

„Hemingway hat auf eine Generation deutscher Schriftsteller einen stilbildenden Einfluss ausgeübt. Wer hat ihn in Wirklichkeit ausgeübt – Hemingway oder seine deutsche Übersetzerin Annemarie Horschitz-Horst?“

Mit diesen Worten thematisierte schon Marcel Reich-Ranicki die Problematik der Hemingway-Übersetzung im Jahr 1965 auf einem Übersetzer-Kongreß. Aber was genau machte man ihr eigentlich zum Vorwurf? Da ist zum einen die Ungenauigkeit: egal ob Hemingway wonderful, fine, loveley, oder beautiful schreibt, bei Horschitz-Horst wird immer ein wunderbar daraus. Zum anderen der fehlende Mut bei Kraftausdrücken: der son of a bitch ist bei Horschitz-Horst kein Hurensohn, sondern ein verdammter Kerl. Und schließlich auch die fehlende Kenntnis und Interpretation des Autors Hemingway selbst, denn Hemingways man übersetzt Horschitz-Horst zu oft als Mensch, obwohl der Macho Hemingway meist nur von Männern schreibt.

Wer Missverständnisse vermeiden will, der greift zum Original oder liest eine der neueren Übersetzungen von Werner Schmitz, der für seine Arbeit auch vom Feuilleton oft gelobt wurde, z.B. in der Neuen Zürcher Zeitung und für seine Übersetzungen der Werke amerikanischer Autoren 2011 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis geehrt wurde. 

Seit nun vierzig Jahren übersetzt der in der Lüneburger Heide lebende Werner Schmitz die Werke Hemingways neu, zuletzt erschien seine Übersetzung von „Whom the bell tolls“ im Rowohlt-Verlag 2022 unter „Wem die Stunde schlägt„. Schmitz erste Hemingway-Übersetzung war 1986 „Gefährlicher Sommer“, nachdem sich 1984 der Rowohlt-Verlag mit den Erben Hemingways darauf verständigt hatte, dass das Werk sukzessive neu übersetzt wird.

Percival Everett, „James“

Der amerikanische Schriftsteller und Professor für englische Literatur Percival Everett hat in seinem 2024 erschienenen Roman „James“ einen der Klassiker der amerikanischen Literatur „Huckleberry Finn“ von Mark Twain neu geschrieben – doch diesmal aus der Sicht des entflohenen Sklaven Jim. Damit ist die Messlatte hoch und es stellt sich die Frage: kann das gelingen? Ja und Nein.

Ja, denn der neue Roman von Percival Everett orientiert sich sehr stark an der Geschichte des entflohenen Sklaven Jim – der Inhalt ist damit dann auch den meisten Lesern und Leserinnen klar.

Für die wenigen , die Huckleberry Finn noch nicht gelesen haben, hier ein kurzer Abriss: Aus der Not heraus fliehen Huckleberry Finn und der befreundete Sklave Jim zufällig zur gleichen Zeit aus prekären Verhältnissen, treffen sich auf der Flucht wieder, erleben groteske Abenteuer, werden immer wieder getrennt, finden immer wieder zusammen und kehren am Ende zurück in ihre Heimat.

Und aus dem Klappentext:

„Jim spielt den Dummen. Es wäre zu gefährlich, wenn die Weißen wüssten, wie intelligent und gebildet er ist. Als man ihn nach New Orleans verkaufen will, flieht er mit Huck gen Norden in die Freiheit. Auf dem Mississippi jagt ein Abenteuer das nächste: Stürme, Überschwemmungen, Begegnungen mit Betrügern und Blackface-Sängern. Immer wieder muss Jim mit seiner schwarzen Identität jonglieren, um sich und seinen jugendlichen Freund zu retten.“

Zeit, Ort und Personen aus Huckleberry Finn erkennt der Leser leicht wieder – auch dann wenn seine eventuelle Jugendlektüre des „Huckleberry Finn“ schon Jahrzehnte zurückliegt oder vielleicht sogar nur eine Verfilmung bekannt ist. Lediglich das Ende weicht von der „Vorlage“ ab. Ebenso wie Twains Roman, liest sich „James“ flüssig, die Gesellschaftskritik ist eingängig und sorgt für eindeutige Sympathie und Everetts Roman fesselt in jedem Fall von der ersten bis zur letzten Seite.

Aber es gibt auch ein „Nein“ auf die obige Frage, denn der Sklave ist in meinen Augen nicht immer authentisch und die Leiden der Sklaverei – wenn auch eindringlich beschrieben – gehen mir manchmal zur sehr in den verschiedenen Abenteuern unter. Bei all dem Leid, dass der Sklave Jim selbst erfährt, muss man sich über seinen Gleichmut und seine Aufrechterhaltung der Fassade der Dummheit wundern, das wirkt nicht immer authentisch in der Geschichte selbst. Aber – ohne zu viel zu verraten – wird dem Leser ebenso wie Jim gegen Ende des Romans der Geduldsfaden einmal reißen und die Peiniger bekommen es selbst mit der Angst zu tun.

Die deutsche Übersetzung ist im März 2024 im Carl Hanser Verlag erschienen und trotz einiger kritischer Worte, sei der Roman jedem wärmstens empfohlen. Mit seinen 330 Seiten ist er auch überschaubar und sorgt an einem Wochenende für Lesegenuss und Unterhaltung, die ausreichend Raum für kritische Betrachtung der Sklaverei läßt.

© 2025

Theme von Anders NorénHoch ↑