Kategorie: Deutsche Gegenwart (Seite 2 von 3)

Michael Köhlmeier, „Die Verdorbenen“

Der neue Roman „Die Verdorbenen“ von Michael Köhlmeier hat es in vielerlei Hinsicht in sich und wirft viele Fragen auf – klingt skeptisch? Ist es aber nicht, sondern mal wieder ein rundum gelungenes Erzählwerk von Köhlmeier. „Erzählwerk ist vielleicht die richtige Typologie, denn genau das kann Köhlmeier bestens: erzählen! Und so mag man dieses kleine Büchlein mit einem Umfang von etwa 180 Seiten auch auf beiseite legen und – vielen wird es so ergehen – in einem Rutsch weglesen. Wenn der Leser dann am Ende ankommt, ist es aber nicht weg-gelesen, denn es bleiben zu viele Fragen offen.

Zum Inhalt

Der junge Johann kommt Anfang der Siebziger Jahre als Student nach Marburg an der Lahn, wird dort Tutor und lernt die wortkarge Christiane und ihren Freund Tommi kennen. Nach einem nahezu wortlosen Spaziergang um einen See eröffnet Christiane Johann, dass sie nun zu ihm ziehe, da sie ihn liebe. Johann ist hiervon überrumpelt und entzieht sich der Situation, doch nur wenige Wochen später entwickelt sich zwischen den dreien ein düsteres Beziehungsdreieck.

Fazit

Das Buch fesselt. Schon auf den ersten Seiten wird eine Spannung aufgebaut, die sich durch den gesamten Text zieht. Johann wurde als Kind von seinem Vater gefragt, was denn sein Herzenswunsch sei, den er sich in seinem Leben einmal erfüllen möchte. „Einmal im Leben möchte ich einen Mann töten“ ist Johanns Wunsch, den er sich aber nicht traut seinem Vater gegenüber zu offenbaren. Doch dieser Wunsch durchdringt den ganzen Text und man ahnt oder befürchtet stets, was gleich passieren wird…. doch es kommt alles ganz anders.
Das Buch fesselt aber auch, weil wir am Ende nicht erklärt bekommen: wie wurden die Menschen zu denen, die sie sind.

Eine grandiose Lektüre, die zum erneuten Lesen einlädt – trotz des Wissen auch bei zweiten und dritten Male keine Antworten zu erhalten.

Dimitrij Kapitelmann, „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“

Dimitrij Kapitelmans Text ist schon 2016 bei Hanser erschienen und wurde 2018 bei dtv als Taschenbuch neu aufgelegt und war die erste Buchveröffentlichung des Journalisten, dessen Basistext und Idee schon 2013 in der taz veröffentlicht wurde.

Kurz zum Inhalt

Der Protagonist Dimitrij Kapitelmann ist ein Sohn von jüdischen Kontingentflüchtlingen, die in den 90er Jahren aus der Ukraine nach Deutschland und dort direkt in der Hochburg der Neonazi-Szene in Leipzig landen. Leichtfüßig und mit außergewöhnlichem Humor erleben wir, wie die Familie sich mit einem kleinen Laden über Wasser hält, wie ihr Alltag aussieht, wie sie sich langsam bessere Lebensbedingungen erarbeiten und wie Vater und Sohn ihre Position zueinander und zu ihrem Judentum auf einer Reise nach Israel entdecken, bestimmen und verteidigen.

Fazit

Das Protagonist und Erzähler den selben Namen tragen, lässt zu Recht vermuten, dass das Buch sehr stark autobiographisch motiviert ist. Der Verlag weist den Text auch keinem Genre zu, es ist weder Roman, noch Novelle, Erzählung, Autobiographie oder Reportage – es ist von allem ein bißchen. Auch wenn Wikipedia „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ einem Roman nennt – ein Grund mehr Wikipedia nicht immer blind zu vertrauen – lässt sich dieses Buch keinem Genre eindeutig zuweisen. Dies ist auch durchaus ein Kritikpunkt an dem Buch, denn wir wissen nicht wo Fiktion endet und beginnt.

Das Lesen dieses Buches macht in jedem Fall Spaß und ist ein Gewinn. Wir lernen viel über die Flüchtlingssituation in den 90er Jahre, über Identitätssuche, über Israel und vieles mehr.

Das Buch lebt ganz stark von den Szenen in denen der pragmatische Vater und der identitätssuchende Sohn direkt und unmittelbar aufeinander treffen und glücklicherweise gibt es davon zahlreiche.

Martin Becker/Tabea Soergel, „Die Schatten von Prag“

Der im Oktober 2024 im Kanon Verlag erschienene Roman „Die Schatten von Prag“ bietet ein stimmungsvolles Bild vom Prag um 1910. Wer historische Krimis mag, wer sich für Prag und seine Geschichte interessiert und wer einfach nur gut unterhalten werden will – der wird in diesem etwa 300-seitigen Roman fündig.

Kurz zum Inhalt

Während die Prager Bevölkerung im Jahr 1910 auf den Weltuntergang, ausgelöst durch den Halleyschen Kometen, wartet, ereignen sich mysteriöse Mordfälle, die von Polizei und Obrigkeit als Unfälle oder Selbstmorde vertuscht werden. Ein Journalist namens Kisch ermittelt in jedoch in diesen Mordfällen, wird dabei von seiner jungen Kollegin Lenka Weißbach unterstützt und gemeinsam decken sie dabei eine Verschwörung auf.

Ein historischer Faktencheck…

… ist in diesem Buch nicht unbedingt angebracht, literarische Fiktion und historische Realität durchweben einander und sind nicht immer klar getrennt. Es fallen viele Namen von Personen wie Hugo Bergmann, Else und Berta Fanta, Gustav Meyrink, Hašek und natürlich Franz Kafka, die alle 1910 in Prag lebten und deren situative Beschreibung als real denkbar wären, für die es im Detail aber keine Belege gibt. Kafka kannte zum Beispiel die Familie Kisch und war mit Paul Kisch auch freundschaftlich verbunden, das Kafka jedoch Egon Erwin Kisch beim Biertrinken begleitet hätte und im Restaurant den Blinden gespielt hätte ist weder belegt noch realistisch. Nun könnte man sagen, dass dies nicht ganz so wichtig ist – ja, das stimmt – und dennoch: eben wenn Fiktion und Realität so eng beieinander sind, werden eben auch kritische Fragen laut.

Was ich den beiden Autoren am wenigsten abnehme, ist ihre Aussage, dass es sich ja gar nicht um den berühmten Journalisten Egon Erwin Kisch handeln müsse, da sie im Roman ja niemals seinen Vornamen erwähnen. Die Figur ist so sehr an den historischen Egon Erwin Kisch angelehnt (er wohnt im Bärenhaus, ist tätowiert, ist Kettentraucher, lebt im Caféhaus, ist Kriminalreporter bei der Bohemia, ist in Prag ein bekannter Hund und und und), dass alle Zweifel von vornherein obsolet sind.

Fazit

Der Roman ist durchaus eine sehr gelungene Unterhaltung und bietet auch Anreiz sich mit der Geschichte Prags um die Jahrhundertwende auseinanderzusetzen. Man kann sich hier durchaus historisch inspirieren lassen, darf aber nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Auch ausgewiesene Kenner von Prag und der deutschsprachigen Literatur, dem „Prager Kreis“ und auch von Franz Kafka kommen hier durchaus auf ihre Kosten und könnten sich phantasievoll in die Atmosphäre der goldenen Stadt an der Moldau entführen lassen.

Wolf Haas, „Wackelkontakt“

Kurz zum Inhalt

Franz Escher wartet auf den Elektriker und wie wir es alle kennen muss er lange warten, so dass er in der Wartezeit beginnt ein Buch zu lesen. Er hat ein Faible für Mafiakrimis und so liest er ein Buch über den Mafioso Elio Russo, der in einem Zeugenschutzprogramm ist und ein Buch liest, welches von einem Mann in seiner Wiener Wohnung handelt, der auf einen Elektriker wartet… Und so entwickelt sich eine rasante Geschichte, von dessen Inhalt nicht mehr verraten werden soll, denn aus diesem Pageturner soll nicht zu viel verraten werden.

Wackelkontakt“ ist der neue Roman von Wolf Haas, etwa 230 Seiten lang und im Januar 2025 im Hanser Verlag erschienen.

"Wackelkontakt" von Wolf Haas

Resümee

Jedem guten Buch wünsche ich viele Leser, doch es gibt auch diese besonderen Ausnahmen, in denen ich sage: unbedingt lesen! Die Verschachtelung der Geschichte in der Geschichte bzw. die Art, wie der eine Protagonist die Geschichte des anderen im Buch liest und umgekehrt, erinnert an die Kunstwerke von M.C. Escher – hierzu gibt es auch direkt zu Beginn des Romans einen Hinweis und auch die Namensgleichheit ist verräterisch – und ist außerdem sehr unterhaltsam, fesselnd und mit einem unglaublichen Humor gespickt, dass man das Buch kaum aus den Händen legen mag.

Für mich war es mein erster Wolf Haas und ich habe diese Lektüre sehr genossen.

Saša Stanišic, Wolf

Der 2023 im Carlsen Verlag erschienene Roman „Wolf“ von Saša Stanišic ist das erste Kinder- oder Jugendbuch des Autors, der insbesondere mit seinen Romanen „Herkunft“ und „Vor dem Fest“ große Erfolge feierte und einer größeren Leserschaft bekannt wurde.

Das Buch ist schön gestaltet, von Saša Stanišic beinahe durchgängig hervorragend erzählt und mit zahlreichen ausdrucksstarken, situativ passenden Bildern von Regina Kehn illustriert. Das Buch wurde mit zahlreichen Preisen, wie zum Beispiel dem Jugendliteraturpreis 2024 als bestes Kinderbuch, ausgezeichnet. Und dennoch läßt mich das Buch ratlos zurück, da es ein überhastetes Ende findet, was die ganze gute Vorarbeit in diesem zu Beginn grandiosen Roman leider zunichte macht.

Wie immer nur kurz zum Inhalt

Der jugendliche Kemi wird gegen seinen Willen von seiner Mutter in ein Sommerferienlager geschickt, wo er auf Jörg trifft, der irgendwie „andersiger“ als alle anderen ist und dadurch zum Mobbingopfer insbesondere von Marko, einem weiteren Ferienlagerteilnehmer, und dessen Spießgesellen wird. Das Mobbing ist für alle sichtbar und doch bleiben alle nur passive Zuschauer, Kinder und Erwachsene greifen überhaupt nicht oder nur sehr zögernd und halbherzig ein. Und genau das macht den Roman grandios, nämlich dass er in einer kindernahen Sprache schildert, wieviel Mut es braucht, Mobbingopfern beizustehen.
Der neumal kluge, frühreife Kemi liefert sich witzige Dialoge mit den Betreuen, um sich vor den Gemeinschaftsaktivitäten zu drücken, da „er die Natur an sich ablehnt“, der lebenserfahrene Außenseiter Jörg wird liebevoll dargestellt und der erwachsene Leser weiß gar nicht so recht, warum ausgerechnet Jörg und nicht Kemi zum Mobbingopfer wird und alle Ferienbetreuer sind ganz eigene Charaktere – dies alles schildert Saša Stanišic fesselnd bis zum letzten Ferientag.

Das bittere Ende

Auf den letzten zwölf Seiten kommt die Försterin ins Ferienlager und hält eine flammende Rede für den Klimaschutz. Gegen dieses Thema ist überhaupt nichts einzuwenden und diese Passage ist überaus witzig geschrieben, jedoch entsteht hier auch der Eindruck, dass der Autor auch dieses Thema noch in seinen Roman über Mobbing noch mit einbauen wollte – climate change sells. Auch das Lehrermaterial zu diesem Roman greift dies gerne auf und nennt eines der zentralen Themen dieses Buch „Natur und Naturschutz“, was bei aller Liebe einfach Quatsch ist.
Es kommt aber noch schlimmer. Am Ende des Romans und am Ende des Ferienlagers bleibt alles so wie es war. Es gibt für niemanden Konsequenzen, es gibt keine wesentliche Änderungen, es gibt keine Hoffnung auf Besserung, es gibt kaum Einsichten und wir ahnen oder wissen: die Zuschauer bleiben weiterhin Zuschauer und die Mobbingopfer werden weiter leiden.
Es ist an sich gelungen, dass uns der Autor nicht mit einem süßholzraspelnden Happy-End belästigt, dennoch bin ich der Meinung, dass ein Kinderbuch im Schluss eine andere Botschaft übermitteln sollte.

Fazit

Trotz des Endes, mit dem ich ganz und gar nicht zufrieden bin, wünsche ich dem Buch viele Leser, da es das Thema Mobbing sowie den Mut sich dem entgegen zu stellen sehr eindrücklich darstellt. Neben diesem ernsthaften Thema ist es aber auch ein sehr unterhaltsames Buch mit zahlreichen lustigen Dialogen der beiden Außenseiter Kemi und Jörg.

Alina Bronsky, „Pi mal Daumen“

Der neue Roman „Pi mal Daumen“ von Alina Bronsky, im August 2024 erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch (ca. 270 Seiten, 24,00 Euro) ist ein überaus charmanter Lesegenuss und kann nur wärmstens empfohlen werden.

Nur ganz wenig zum Inhalt

Zwei Außenseiter der Gesellschaft, die dreiundfünfzigjährige Moni Kosinsky und der sechszehnjährige Oscar Maria Wilhelm Graf von Ebersdorff treffen in einer Mathematikvorlesung in der Universität aufeinander und schließen eine ungewöhnliche Freundschaft. Moni ist bereits mehrfache Großmutter, wird von allen für dumm gehalten und möchte sich ihren Traum vom Mathematikstudium erfüllen. Oscar, hochbegabt und aus dem autistischen Spektrum, sieht sich selbst als einziger diesem Studium gewachsen. Aus der Begegnung zwischen der absolut lebenstauglichen, liebenswerten Oma und dem absolut lebensfremden, schrulligen Oscar entstehen zahlreiche witzige Dialoge und überraschende Szenen. Und das wird von Alina Bronsky so leichtfüßig und sympathisch geschildert, dass man das Buch gar nicht aus den Händen legt.

Fazit

Das Buch ist eine wunderschöne Lektüre und eine kurzweilige Unterhaltung auf hohem Niveau. Hier steht der Inhalt und die Situationskomik ganz klar im Vordergrund und dies wird von der leichtfüßigen Sprache von Alina Bronsky, die immer die passenden Worte für Oscar und die passende Handlung für Moni findet bestens getragen. Eine unbedingte Leseempfehlung, so sehen es auch die Unabhängigen Buchhandlungen, die diesen Roman zum „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ gewählt haben.

Hintergrund

Alina Bronsky, selbst Mutter von vier Kindern, weiß wovon sie schreibt, denn sie selbst hat als über dreißigjährige Mutter nochmals die Universität besucht, um unter anderem auch Mathematikvorlesungen zu besuchen. Hierüber berichtet sie im Interview mit ihrem Verlag.

Valerie Fritsch, „Winters Garten“

Valerie Fritsch spielt in einer ganz anderen Liga als zahlreiche gleichaltrige Autoren und Autorinnen im deutschsprachigen Raum – um an dieser Stelle auch mal eine Redensart aus dem Sport anzubringen. Und auch der 2016 im Suhrkamp Verlag erschienene Roman „Winters Garten“ stellt dies unter Beweis.

Wer den aktuellen Roman „Zitronen“ von Valerie Fritsch gelesen hat, der möchte vielleicht mehr über die Autorin erfahren beziehungsweise mehr von ihr lesen und wird bei einer Recherche zu ihrem Werk unweigerlich auf „Winters Garten“ und „Herzklappen von Johnson und Johnson“ stoßen – so ist es auch mir ergangen.

Auch in „Winters Garten“ bietet Valerie Fritsch eine sprach- und bildgewaltige Prosa und phänomenale Sätze und Einsichten, die den Leser nachdenklich machen, zum Beispiel: „Die Jungen suchten mit der Dringlichkeit des Anbeginns die Wege, die sie gehen wollten, und die Alten gingen in Demut die Wege zu Ende, die sie einst gewählt hatten.“

Es ist eine apokalyptische Welt in die der Protagonist Anton Winter hineingeboren wird. Er verbringt seine Kindheit und Jugend mit seiner Familie in einem paradiesischen Garten, geht als erwachsener Mann und Vogelzüchter in die Stadt, die bereits im Verfall befindlich ist, lernt dort seine Liebe Frederike kennen und kehrt mit dieser anschließend zurück in den Garten, der mittlerweile ganz verlassen und verkommen ist, zurück. Der Roman thematisiert eine Gegenwart, die keinem etwas zu bieten hat, eine Liebe, die Halt aber kaum Hoffnung gibt. Vieles lässt sich als Parabel auf das moderne Leben und die Sehnsüchte der Menschen lesen, aber mir war bei der Lektüre dieses Buches der Inhalt weniger wichtig als die Sprache und die einzelnen Bilder:

„Für Anton Winter war die Kindheit vollgestopft mit hohen Gräsern und Teerosen und grünen Äpfeln in den Bäumen, die man den ganzen Sommer über so begehrlich ansah, dass sie irgendwann schüchtern erröteten.“

Inhaltlich läßt sich vielleicht sogar kritisieren, dass hier einige Lücken existieren, wenn zum Beispiel von einem Krieg die Rede ist, man aber niemals erfährt, wer hier warum kämpft und ob dieser Krieg noch andauert oder schon lange vorbei ist. Außerdem lesen wir von Massenselbstmorden, erfahren aber niemals die Hintergründe hierzu. Ebenso wird die um sich greifende Hoffnungslosigkeit niemals erläutert oder begründet. Raum und Zeit sind eine vielleicht schon postapokalyptische Welt, die der Leser so einfach hinnehmen muss:

„Den einsamsten aller Planeten hat mein Großvater die Erde genannt, weil hier jeder für sich allein kämpft und jeder für etwas stirbt, für das man gerne leben würde.“

Valerie Fritsch, Zitronen

Valerie Frisch, österreichische Schriftstellerin und Photografin, Jahrgang 1989, ist mit ihrem im Februar 2024 erschienen Roman „Zitronen“ zu Recht für den österreichischen Buchpreis nominiert worden.
Auf etwa 180 Seiten erzählt sie sprach- und bildgewaltig das Schicksal des jungen August Drach, der zuerst von seinem Vater geschlagen wird und als dieser plötzlich verschwindet, offenbart sich die wahre Natur seiner Mutter. Sie mischt ihm Medikamente unters Essen, um ihn krank zu machen und anschließend durch seine Pflege Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erhalten – ein Verhalten bekannt als Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Hier liegen Gewalt und Zärtlichkeit stets so dicht beieinander, das die Lektüre manchmal nur schwer auszuhalten ist – aber es lohnt sich dran zu bleiben.
Umrahmt wird das triste Leben des August Drach von zahlreichen morbiden Auflistungen: da sind die Einzelschicksale im Dorf und das Verschwinden zahlreicher Menschen, inklusive kleiner Kinder, in der Pflege gequälte Senioren, brutal zugerichtete Leichen im Leichenschauhaus, Mörder und ihre Verbrechen in der Nachbarschaft und vieles mehr. Inhaltlich ist der Roman nur schwer zu verdauen, sprachlich jedoch ein grandioses, selten vorkommendes literarisches Großereignis.

Ein paar willkürliche Zitate aus den ersten zwanzig Seiten:

„August Drach schoss stets als Letzter, schnell und ohne mit der Wimper zu zucken, als wüsste er schon, dass einem das Leben das Abwarten verzieh, aber nie das Zögern.“

„Sie lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablauf.“

„Sie liebte alles, was schön war, und fand manches schön, was anderen bloß wirr vorkam, weil es über das Paradies keine Einigkeit gab.“

„Der Vater rührte keinen Finger, aber erhob oft die Hand.“

„[…] er sagte nichts, nicht guten Morgen und nicht guten Abend, nicht bitte und nicht danke, das Haus vibrierte unter seiner Stummheit, das Schweigen wurde zum Faden, an dem hängend er sich in sich selbst verirrte und an dem er später zurückgehen musste, um aus dem Labyrinth seines Inneren herauszufinden.“

Sie spielt mit Gegensätzen, zeichnet ohne viele Adjektive überdeutliche Bilder, formuliert aphoristisch und man möchte sich hunderte ihrer Sätze merken, um diese bei nächster Gelegenheit zu zitieren.

Ein Mensch, der nie das Urvertrauen seiner Eltern kennengelernt hat, kann kein gelungenes Leben, keine gesunde Beziehung führen und so wird August Drach im zweiten Teil des Romans erwartungsgemäß in seiner ersten und einzigen Liebesbeziehung scheitern und der Roman auf ein krachendes Ende zusteuern. Mehr sei hier nicht verraten, nur die Mahnung: unbedingt lesen! Wer Valerie Fritsch nicht liest, übersieht eine wichtige deutschsprachige Gegenwartsautorin.

Matthias Jügler, Maifliegenzeit

„Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert.“

Mit diesem Satz könnte man den 2024 im Penguin Book Verlag erschienen Roman des 1984 in Halle an der Saale geborenen Matthias Jügler durchaus zusammenfassen und damit wäre das immer wiederkehrende Hauptmotiv der Wahrheitssuche auch bestens beschrieben. Aber zuerst etwas ganz anderes vorweg: wer diesen Roman lesen und genießen möchte, dem sei er auf jeden Fall ans Herz gelegt, aber dringend nur unter folgender Bedingung zu konsumieren: keine Recherche vorab zu diesem Buch im Netz und alle Klappentexte und Beipackzettel unbedingt ignorieren. Einfach nur den Roman als Roman genießen.

Die jungen Eltern Hans und Katrin freuen sich auf ihr erstes Kind, erleben jedoch nach der Geburt den Albtraum, dass ihr Kind für tot erklärt wird, ohne dass sie es nochmals zu sehen bekommen. Katrin hat von Anfang an ein ungutes Gefühl und glaubt, dass ihr Sohn lebt, Hans kann nichts tun und möchte das Katrin das Unglück akzeptiert. Darüber zerbricht ihre Beziehung und in beider Leben bleiben Zweifel und Misstrauen, immer wieder Suchen und Hoffen und steht der Wunsch endlich die Wahrheit zu erfahren. Dies ist – ohne weiteres verraten zu wollen – eine Ebene des Roman, die vom traumatischen Verlust, von folgenschweren Zweifeln, einem Neubeginn und einer hoffnungsvoller Suche erzählt.

Daneben gibt es noch die Ebene der Bilder aus der Angelwelt. Hans ist Angler, letztlich angetrieben durch das Hobby seiner verstorbenen Vaters, der immer wundersame Geschichten von Fischen erzählt, die Hans, seine Geschwister und seine Mutter ihrem Vater niemals geglaubt haben, weil der Vater selten etwas vom Angeln mit nach Hause brachte und seine sonderbaren Fische niemals zu sehen waren. Dies – und der Blick auf die verborgene Wahrheit ändert sich – als Hans selber zu angeln beginnt und sich eine wundersame Geschichte seines Vaters nach der anderen als Wahr herausstellt.

Ein kurzweiliger, wunderbar erzählter Roman, der zudem spannend ist, so dass er mit seinen etwa 150 Seiten auch schnell durchgelesen ist.

Der Autor wurde und wird für diesen Roman und seine Geschichte heftig kritisiert, hieran will ich mich aber nicht beteiligen, denn die Frage ob die Fiktion eine reale Basis hat, ist nicht zwingend relevant für den Lesegenuss.

Caroline Wahl, 22 Bahnen

Ins Wasser springen und von einem leichten Sog oder einer langsamen Strömung weggerissen werden, ohne dass die Angst überhand nimmt, das rettende Ufer zu verlieren – das ist der Lesegenuss von Caroline Wahls „22 Bahnen“.

Zum Inhalt lassen wir die ersten Zeilen des Klappentextes sprechen: „Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten auch um ihre Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße, in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung […]“.

Das klingt düster und ist es in der Realität auch, doch fokussiert sich der Roman auf eine starke, helfende Bindung zwischen zwei Schwestern und der Leser kann, nicht zuletzt wegen eines offenen Endes, optimistisch in die Zukunft der Protagonisten schauen.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Tilda erzählt und die Autorin Caroline Wahl rauscht im Präsens in szenischer Erzählweise, unterbrochen durch Rückblenden im Präteritum, die ihrerseits wiederum im Präsens unterbrochen werden, durch die Geschichte von Tilda, ihrer Familie und ihren Freunden. Der Roman gleicht einem temporeichen Kinofilm, der auf ein Ende zu steuern droht, welches wir nicht sehen wollen. Wie schon oben mit dem offenen Ende „gespoilert“, wird glücklicherweise die Drohung nicht immer wahr. Stets blitzt das Geheimnis eines Unfalls vor einigen Jahren auf, von dem wir erst am Schluss einige Details, aber bei weitem nicht alles erfahren. Mit diesen Tempo und dem Geheimnis entwickelt der Roman eine Sogwirkung, die den Leser das Buch nur ungerne zur Seite legen lässt.

Glücklicherweise bietet uns die Autorin in einigen Motiven immer wieder eine Rast an. So wiederholt sich die Szene, wenn Tilda an der Supermarktkasse, die Artikel mit den Augen scannt und versucht Summe des Einkaufs und Charakter des Käufers einzuschätzen oder das Schwimmritual, das Tilda immer wieder die titelgebenden 22 Bahnen schwimmen läßt – eigentlich sind es eher 20 +/-5, aber dazu gibt die Lektüre Aufschluss oder die Bedeutung eines geregelten allabendlichen gedeckten Abendbrottisches.

Caroline Wahls Debütroman ist in meinen Augen zu recht hochgelobt, denn seine beschriebene Sogwirkung ist außergewöhnlich. Nicht einmalig, aber vielleicht für das Literaturjahr 2023 herausragend. Der große Erfolg setzt die junge Autorin gewiss unter Druck und es bleibt abzuwarten, ob sie diesem Stand halten kann und uns weitere hervorragende Romane bieten kann. Der Nachfolgeroman „Windstärke 17“, der das obige Rezept wiederholt und aus der Ich-Perspektive von Ida erzählt, hat mich nicht überzeugt. Ich kam über die ersten Seiten nicht hinaus.

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