Kategorie: Belletristik (Seite 2 von 3)

Die drei ??? und Thomas Mann

Zum Thomas Mann Jubiläumsjahr – am 6. Juni 2025 jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal – erschien im Kosmos-Verlag im Februar 2025 von Marco Sonnleitner „Die drei ???. Das Geheimnis der sieben Palmen„.

Kurz zum Inhalt

Die drei jungen Detektive – wer sie in seiner Jugend gelesen hat, der sei vorgewarnt, denn sie sind zwar noch jugendlich, haben aber mittlerweile eine „echte“ Detektei und alle drei fahren nun Auto – stehen vor einem Rätsel, denn an unterschiedlichen Orten wurde nahezu zeitgleich eingebrochen, alte Briefe wurden gestohlen, Bibliotheken wurden verwüstet, doch die Werke von Thomas Mann wurden verschont und säuberlich aufgereiht. Die Opfer sind allesamt Nachfahren von Walter Lehmann, einem ehemaligen Sekretär Thomas Mann in den vierziger Jahren. Die Spur führt zur Villa Seven Palms, in der Thomas Mann tatsächlich in den vierziger Jahren lebte, und hier werden die drei Detektive Justus, Peter und Bob das Geheimnis lösen können.

Der Jugendroman verwebt hier tatsächliche Ereignisse und literaturhistorische Hintergründe mit erzählerischen Möglichkeiten und ist – besonders für junge Leser – durchaus packend und spannend geschrieben.

Fazit

Selbst Volker Weidermann ist begeistert und hat einen lobenden Artikel in der Zeit, No. 15 am 10. April 2025, verfasst – das mag was heißen. Auch wenn ich eine allzu große Begeisterung nicht teilen kann, so ist es dennoch ein unterhaltsames Abenteuer, das jugendliche Drei ??? Leser ohnehin verschlingen werden und damit vielleicht auch Neugier wecken kann. Mag sein, dass diese Detektivgeschichte auch Brücken zur deutschen Literatur und der Thomas-Mann-Welt bauen hilft, aber in erster Linie ist es eine originelle und ebenso eine schöne Idee für Lesenostalgiker und Thomas-Mann-Fans.

Marco Sonnleitner, „Die drei ???. Das Geheimnis der sieben Palmen
Stuttgart 2025, Kosmos Verlag
159 Seiten, 12,00 EUR

Michael Köhlmeier, „Die Verdorbenen“

Der neue Roman „Die Verdorbenen“ von Michael Köhlmeier hat es in vielerlei Hinsicht in sich und wirft viele Fragen auf – klingt skeptisch? Ist es aber nicht, sondern mal wieder ein rundum gelungenes Erzählwerk von Köhlmeier. „Erzählwerk ist vielleicht die richtige Typologie, denn genau das kann Köhlmeier bestens: erzählen! Und so mag man dieses kleine Büchlein mit einem Umfang von etwa 180 Seiten auch auf beiseite legen und – vielen wird es so ergehen – in einem Rutsch weglesen. Wenn der Leser dann am Ende ankommt, ist es aber nicht weg-gelesen, denn es bleiben zu viele Fragen offen.

Zum Inhalt

Der junge Johann kommt Anfang der Siebziger Jahre als Student nach Marburg an der Lahn, wird dort Tutor und lernt die wortkarge Christiane und ihren Freund Tommi kennen. Nach einem nahezu wortlosen Spaziergang um einen See eröffnet Christiane Johann, dass sie nun zu ihm ziehe, da sie ihn liebe. Johann ist hiervon überrumpelt und entzieht sich der Situation, doch nur wenige Wochen später entwickelt sich zwischen den dreien ein düsteres Beziehungsdreieck.

Fazit

Das Buch fesselt. Schon auf den ersten Seiten wird eine Spannung aufgebaut, die sich durch den gesamten Text zieht. Johann wurde als Kind von seinem Vater gefragt, was denn sein Herzenswunsch sei, den er sich in seinem Leben einmal erfüllen möchte. „Einmal im Leben möchte ich einen Mann töten“ ist Johanns Wunsch, den er sich aber nicht traut seinem Vater gegenüber zu offenbaren. Doch dieser Wunsch durchdringt den ganzen Text und man ahnt oder befürchtet stets, was gleich passieren wird…. doch es kommt alles ganz anders.
Das Buch fesselt aber auch, weil wir am Ende nicht erklärt bekommen: wie wurden die Menschen zu denen, die sie sind.

Eine grandiose Lektüre, die zum erneuten Lesen einlädt – trotz des Wissen auch bei zweiten und dritten Male keine Antworten zu erhalten.

Dimitrij Kapitelmann, „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“

Dimitrij Kapitelmans Text ist schon 2016 bei Hanser erschienen und wurde 2018 bei dtv als Taschenbuch neu aufgelegt und war die erste Buchveröffentlichung des Journalisten, dessen Basistext und Idee schon 2013 in der taz veröffentlicht wurde.

Kurz zum Inhalt

Der Protagonist Dimitrij Kapitelmann ist ein Sohn von jüdischen Kontingentflüchtlingen, die in den 90er Jahren aus der Ukraine nach Deutschland und dort direkt in der Hochburg der Neonazi-Szene in Leipzig landen. Leichtfüßig und mit außergewöhnlichem Humor erleben wir, wie die Familie sich mit einem kleinen Laden über Wasser hält, wie ihr Alltag aussieht, wie sie sich langsam bessere Lebensbedingungen erarbeiten und wie Vater und Sohn ihre Position zueinander und zu ihrem Judentum auf einer Reise nach Israel entdecken, bestimmen und verteidigen.

Fazit

Das Protagonist und Erzähler den selben Namen tragen, lässt zu Recht vermuten, dass das Buch sehr stark autobiographisch motiviert ist. Der Verlag weist den Text auch keinem Genre zu, es ist weder Roman, noch Novelle, Erzählung, Autobiographie oder Reportage – es ist von allem ein bißchen. Auch wenn Wikipedia „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ einem Roman nennt – ein Grund mehr Wikipedia nicht immer blind zu vertrauen – lässt sich dieses Buch keinem Genre eindeutig zuweisen. Dies ist auch durchaus ein Kritikpunkt an dem Buch, denn wir wissen nicht wo Fiktion endet und beginnt.

Das Lesen dieses Buches macht in jedem Fall Spaß und ist ein Gewinn. Wir lernen viel über die Flüchtlingssituation in den 90er Jahre, über Identitätssuche, über Israel und vieles mehr.

Das Buch lebt ganz stark von den Szenen in denen der pragmatische Vater und der identitätssuchende Sohn direkt und unmittelbar aufeinander treffen und glücklicherweise gibt es davon zahlreiche.

Martin Becker/Tabea Soergel, „Die Schatten von Prag“

Der im Oktober 2024 im Kanon Verlag erschienene Roman „Die Schatten von Prag“ bietet ein stimmungsvolles Bild vom Prag um 1910. Wer historische Krimis mag, wer sich für Prag und seine Geschichte interessiert und wer einfach nur gut unterhalten werden will – der wird in diesem etwa 300-seitigen Roman fündig.

Kurz zum Inhalt

Während die Prager Bevölkerung im Jahr 1910 auf den Weltuntergang, ausgelöst durch den Halleyschen Kometen, wartet, ereignen sich mysteriöse Mordfälle, die von Polizei und Obrigkeit als Unfälle oder Selbstmorde vertuscht werden. Ein Journalist namens Kisch ermittelt in jedoch in diesen Mordfällen, wird dabei von seiner jungen Kollegin Lenka Weißbach unterstützt und gemeinsam decken sie dabei eine Verschwörung auf.

Ein historischer Faktencheck…

… ist in diesem Buch nicht unbedingt angebracht, literarische Fiktion und historische Realität durchweben einander und sind nicht immer klar getrennt. Es fallen viele Namen von Personen wie Hugo Bergmann, Else und Berta Fanta, Gustav Meyrink, Hašek und natürlich Franz Kafka, die alle 1910 in Prag lebten und deren situative Beschreibung als real denkbar wären, für die es im Detail aber keine Belege gibt. Kafka kannte zum Beispiel die Familie Kisch und war mit Paul Kisch auch freundschaftlich verbunden, das Kafka jedoch Egon Erwin Kisch beim Biertrinken begleitet hätte und im Restaurant den Blinden gespielt hätte ist weder belegt noch realistisch. Nun könnte man sagen, dass dies nicht ganz so wichtig ist – ja, das stimmt – und dennoch: eben wenn Fiktion und Realität so eng beieinander sind, werden eben auch kritische Fragen laut.

Was ich den beiden Autoren am wenigsten abnehme, ist ihre Aussage, dass es sich ja gar nicht um den berühmten Journalisten Egon Erwin Kisch handeln müsse, da sie im Roman ja niemals seinen Vornamen erwähnen. Die Figur ist so sehr an den historischen Egon Erwin Kisch angelehnt (er wohnt im Bärenhaus, ist tätowiert, ist Kettentraucher, lebt im Caféhaus, ist Kriminalreporter bei der Bohemia, ist in Prag ein bekannter Hund und und und), dass alle Zweifel von vornherein obsolet sind.

Fazit

Der Roman ist durchaus eine sehr gelungene Unterhaltung und bietet auch Anreiz sich mit der Geschichte Prags um die Jahrhundertwende auseinanderzusetzen. Man kann sich hier durchaus historisch inspirieren lassen, darf aber nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Auch ausgewiesene Kenner von Prag und der deutschsprachigen Literatur, dem „Prager Kreis“ und auch von Franz Kafka kommen hier durchaus auf ihre Kosten und könnten sich phantasievoll in die Atmosphäre der goldenen Stadt an der Moldau entführen lassen.

Wolf Haas, „Wackelkontakt“

Kurz zum Inhalt

Franz Escher wartet auf den Elektriker und wie wir es alle kennen muss er lange warten, so dass er in der Wartezeit beginnt ein Buch zu lesen. Er hat ein Faible für Mafiakrimis und so liest er ein Buch über den Mafioso Elio Russo, der in einem Zeugenschutzprogramm ist und ein Buch liest, welches von einem Mann in seiner Wiener Wohnung handelt, der auf einen Elektriker wartet… Und so entwickelt sich eine rasante Geschichte, von dessen Inhalt nicht mehr verraten werden soll, denn aus diesem Pageturner soll nicht zu viel verraten werden.

Wackelkontakt“ ist der neue Roman von Wolf Haas, etwa 230 Seiten lang und im Januar 2025 im Hanser Verlag erschienen.

"Wackelkontakt" von Wolf Haas

Resümee

Jedem guten Buch wünsche ich viele Leser, doch es gibt auch diese besonderen Ausnahmen, in denen ich sage: unbedingt lesen! Die Verschachtelung der Geschichte in der Geschichte bzw. die Art, wie der eine Protagonist die Geschichte des anderen im Buch liest und umgekehrt, erinnert an die Kunstwerke von M.C. Escher – hierzu gibt es auch direkt zu Beginn des Romans einen Hinweis und auch die Namensgleichheit ist verräterisch – und ist außerdem sehr unterhaltsam, fesselnd und mit einem unglaublichen Humor gespickt, dass man das Buch kaum aus den Händen legen mag.

Für mich war es mein erster Wolf Haas und ich habe diese Lektüre sehr genossen.

Saša Stanišic, Wolf

Der 2023 im Carlsen Verlag erschienene Roman „Wolf“ von Saša Stanišic ist das erste Kinder- oder Jugendbuch des Autors, der insbesondere mit seinen Romanen „Herkunft“ und „Vor dem Fest“ große Erfolge feierte und einer größeren Leserschaft bekannt wurde.

Das Buch ist schön gestaltet, von Saša Stanišic beinahe durchgängig hervorragend erzählt und mit zahlreichen ausdrucksstarken, situativ passenden Bildern von Regina Kehn illustriert. Das Buch wurde mit zahlreichen Preisen, wie zum Beispiel dem Jugendliteraturpreis 2024 als bestes Kinderbuch, ausgezeichnet. Und dennoch läßt mich das Buch ratlos zurück, da es ein überhastetes Ende findet, was die ganze gute Vorarbeit in diesem zu Beginn grandiosen Roman leider zunichte macht.

Wie immer nur kurz zum Inhalt

Der jugendliche Kemi wird gegen seinen Willen von seiner Mutter in ein Sommerferienlager geschickt, wo er auf Jörg trifft, der irgendwie „andersiger“ als alle anderen ist und dadurch zum Mobbingopfer insbesondere von Marko, einem weiteren Ferienlagerteilnehmer, und dessen Spießgesellen wird. Das Mobbing ist für alle sichtbar und doch bleiben alle nur passive Zuschauer, Kinder und Erwachsene greifen überhaupt nicht oder nur sehr zögernd und halbherzig ein. Und genau das macht den Roman grandios, nämlich dass er in einer kindernahen Sprache schildert, wieviel Mut es braucht, Mobbingopfern beizustehen.
Der neumal kluge, frühreife Kemi liefert sich witzige Dialoge mit den Betreuen, um sich vor den Gemeinschaftsaktivitäten zu drücken, da „er die Natur an sich ablehnt“, der lebenserfahrene Außenseiter Jörg wird liebevoll dargestellt und der erwachsene Leser weiß gar nicht so recht, warum ausgerechnet Jörg und nicht Kemi zum Mobbingopfer wird und alle Ferienbetreuer sind ganz eigene Charaktere – dies alles schildert Saša Stanišic fesselnd bis zum letzten Ferientag.

Das bittere Ende

Auf den letzten zwölf Seiten kommt die Försterin ins Ferienlager und hält eine flammende Rede für den Klimaschutz. Gegen dieses Thema ist überhaupt nichts einzuwenden und diese Passage ist überaus witzig geschrieben, jedoch entsteht hier auch der Eindruck, dass der Autor auch dieses Thema noch in seinen Roman über Mobbing noch mit einbauen wollte – climate change sells. Auch das Lehrermaterial zu diesem Roman greift dies gerne auf und nennt eines der zentralen Themen dieses Buch „Natur und Naturschutz“, was bei aller Liebe einfach Quatsch ist.
Es kommt aber noch schlimmer. Am Ende des Romans und am Ende des Ferienlagers bleibt alles so wie es war. Es gibt für niemanden Konsequenzen, es gibt keine wesentliche Änderungen, es gibt keine Hoffnung auf Besserung, es gibt kaum Einsichten und wir ahnen oder wissen: die Zuschauer bleiben weiterhin Zuschauer und die Mobbingopfer werden weiter leiden.
Es ist an sich gelungen, dass uns der Autor nicht mit einem süßholzraspelnden Happy-End belästigt, dennoch bin ich der Meinung, dass ein Kinderbuch im Schluss eine andere Botschaft übermitteln sollte.

Fazit

Trotz des Endes, mit dem ich ganz und gar nicht zufrieden bin, wünsche ich dem Buch viele Leser, da es das Thema Mobbing sowie den Mut sich dem entgegen zu stellen sehr eindrücklich darstellt. Neben diesem ernsthaften Thema ist es aber auch ein sehr unterhaltsames Buch mit zahlreichen lustigen Dialogen der beiden Außenseiter Kemi und Jörg.

Alina Bronsky, „Pi mal Daumen“

Der neue Roman „Pi mal Daumen“ von Alina Bronsky, im August 2024 erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch (ca. 270 Seiten, 24,00 Euro) ist ein überaus charmanter Lesegenuss und kann nur wärmstens empfohlen werden.

Nur ganz wenig zum Inhalt

Zwei Außenseiter der Gesellschaft, die dreiundfünfzigjährige Moni Kosinsky und der sechszehnjährige Oscar Maria Wilhelm Graf von Ebersdorff treffen in einer Mathematikvorlesung in der Universität aufeinander und schließen eine ungewöhnliche Freundschaft. Moni ist bereits mehrfache Großmutter, wird von allen für dumm gehalten und möchte sich ihren Traum vom Mathematikstudium erfüllen. Oscar, hochbegabt und aus dem autistischen Spektrum, sieht sich selbst als einziger diesem Studium gewachsen. Aus der Begegnung zwischen der absolut lebenstauglichen, liebenswerten Oma und dem absolut lebensfremden, schrulligen Oscar entstehen zahlreiche witzige Dialoge und überraschende Szenen. Und das wird von Alina Bronsky so leichtfüßig und sympathisch geschildert, dass man das Buch gar nicht aus den Händen legt.

Fazit

Das Buch ist eine wunderschöne Lektüre und eine kurzweilige Unterhaltung auf hohem Niveau. Hier steht der Inhalt und die Situationskomik ganz klar im Vordergrund und dies wird von der leichtfüßigen Sprache von Alina Bronsky, die immer die passenden Worte für Oscar und die passende Handlung für Moni findet bestens getragen. Eine unbedingte Leseempfehlung, so sehen es auch die Unabhängigen Buchhandlungen, die diesen Roman zum „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ gewählt haben.

Hintergrund

Alina Bronsky, selbst Mutter von vier Kindern, weiß wovon sie schreibt, denn sie selbst hat als über dreißigjährige Mutter nochmals die Universität besucht, um unter anderem auch Mathematikvorlesungen zu besuchen. Hierüber berichtet sie im Interview mit ihrem Verlag.

Paul Lynch, „Das Lied des Propheten“

Viel zu viel Lob…

„Das Buch der Stunde“ … „zentrales Buch für unsere Zeit“ … „politischer Warnruf“ … „beklemmend, intensiv, atemberaubend“ – Kritik, Presse und Rezensionen sind überwiegend begeistert von Paul Lynchs neuem Roman „Das Lied des Propheten„, 2023 erschienen und 2024 durch Eike Schönfeld im Klett-Cotta Verlag übersetzt – eine Beurteilung, die viel zu einfach und zu oberflächlich gefällt wird und der ich mich nicht anschließen kann. Doch eins nach dem anderen.

Kurz gefasst der Inhalt

Der etwa 300 Seiten umfassende Roman spielt im Irland der Gegenwart, das in die Tyrannei abdriftet. Eines Abends stehen zwei Geheimdienstagenten, sogenannte Gardas, vor der Tür der vierfachen Mutter Eilish Stack und verlangen ihren Mann Larry, Lehrer und Gewerkschafter, zu sprechen, der jedoch nicht zu Hause ist. Wenige Tage nach diesem Ereignis verschwindet Larry spurlos und Eilishs Welt gerät aus den Fugen. Zunächst sucht sie noch nach ihrem Ehemann, doch mit jedem Tag wird ihr Leben schwerer und sie verliert zunächst einen Sohn an die Rebellen und schließlich einen weiteren Sohn durch die Folter der Geheimpolizei. Sie verliert ihre Arbeit, ihre Familie, ihr soziales Umfeld, ihr Zuhause, ihren Vater an Demenz und bevor sie alle Hoffnung verliert endet das Buch damit, dass sie mit ihren zwei verbliebenen Kindern in ein Schlauchboot steigt, um die Flucht aus Irland anzutreten.

Was fehlt

Soweit kurz zusammengefaßt der Inhalt des Buchs. Und genauso lückenhaft wie diese Zusammenfassung ist auch der Roman selber. Viele Dinge erschließen sich dem Leser überhaupt nicht. So wird zum Beispiel der zweitälteste Sohn von einem Granatsplitter getroffen, soll operiert werden und wird später als tödliches Opfer der Folter der Geheimpolizei von der Mutter identifiziert – das ist nicht stimmig, da fehlt etwas, denn jede Tyrannei folgt einer Logik, die willkürlich erscheint, jedoch einer Kausalkette zugrunde liegt, die uns Paul Lynch hier einfach verschweigt. Ein anderes Beispiel wäre die Hochzeitsszene: Eilish ist zu Beginn des Romans zur Hochzeit ihrer Cousine eingeladen und dort stehen alle Festgäste, außer Eilish Stack, auf und singen stolz die Nationalhymne anstelle emotionale Hochzeitsreden zu halten. Aber wie es es dazu kommt? Auch das verschweigt Paul Lynch. Und genau das könnte einen Roman zu einem „Buch der Stunde“ machen, wenn er nämlich ein mögliches Szenario darstellte, wie plötzlich Tausende oder Millionen Menschen zu Opportunisten werden können, wie Regime entstehen können. Aber genau zu diesem Punkt schweigt der Autor und macht es sich damit viel zu einfach.

Schlecht ist der Roman gewiss nicht, doch das übertriebene Lob und die zahlreichen Superlative hat er gewiss ebenso wenig verdient. Bemerkenswert ist immerhin die Sprache und formale Gestaltung von Paul Lynch. Der Roman ist komplett im Präsenz geschrieben, es gibt keine Umbrüche und die direkte Rede ist direkt und ohne Anführungszeichen oder ähnlichem in den Fließtext eingebettet. Das macht die Sprache und die Erzählung schnell und der Leser wird geradezu eingesogen in die Geschichte, die auch durchaus spannend zu lesen ist.

Mein Fazit

Wer „Das Lied des Propheten“ liest erhält gute, spannende Unterhaltung, aber keine tiefgründigen oder neuen Erkenntnisse. Wer den Roman nicht liest, braucht keine Angst zu haben, irgendetwas verpasst zu haben.

Valerie Fritsch, „Winters Garten“

Valerie Fritsch spielt in einer ganz anderen Liga als zahlreiche gleichaltrige Autoren und Autorinnen im deutschsprachigen Raum – um an dieser Stelle auch mal eine Redensart aus dem Sport anzubringen. Und auch der 2016 im Suhrkamp Verlag erschienene Roman „Winters Garten“ stellt dies unter Beweis.

Wer den aktuellen Roman „Zitronen“ von Valerie Fritsch gelesen hat, der möchte vielleicht mehr über die Autorin erfahren beziehungsweise mehr von ihr lesen und wird bei einer Recherche zu ihrem Werk unweigerlich auf „Winters Garten“ und „Herzklappen von Johnson und Johnson“ stoßen – so ist es auch mir ergangen.

Auch in „Winters Garten“ bietet Valerie Fritsch eine sprach- und bildgewaltige Prosa und phänomenale Sätze und Einsichten, die den Leser nachdenklich machen, zum Beispiel: „Die Jungen suchten mit der Dringlichkeit des Anbeginns die Wege, die sie gehen wollten, und die Alten gingen in Demut die Wege zu Ende, die sie einst gewählt hatten.“

Es ist eine apokalyptische Welt in die der Protagonist Anton Winter hineingeboren wird. Er verbringt seine Kindheit und Jugend mit seiner Familie in einem paradiesischen Garten, geht als erwachsener Mann und Vogelzüchter in die Stadt, die bereits im Verfall befindlich ist, lernt dort seine Liebe Frederike kennen und kehrt mit dieser anschließend zurück in den Garten, der mittlerweile ganz verlassen und verkommen ist, zurück. Der Roman thematisiert eine Gegenwart, die keinem etwas zu bieten hat, eine Liebe, die Halt aber kaum Hoffnung gibt. Vieles lässt sich als Parabel auf das moderne Leben und die Sehnsüchte der Menschen lesen, aber mir war bei der Lektüre dieses Buches der Inhalt weniger wichtig als die Sprache und die einzelnen Bilder:

„Für Anton Winter war die Kindheit vollgestopft mit hohen Gräsern und Teerosen und grünen Äpfeln in den Bäumen, die man den ganzen Sommer über so begehrlich ansah, dass sie irgendwann schüchtern erröteten.“

Inhaltlich läßt sich vielleicht sogar kritisieren, dass hier einige Lücken existieren, wenn zum Beispiel von einem Krieg die Rede ist, man aber niemals erfährt, wer hier warum kämpft und ob dieser Krieg noch andauert oder schon lange vorbei ist. Außerdem lesen wir von Massenselbstmorden, erfahren aber niemals die Hintergründe hierzu. Ebenso wird die um sich greifende Hoffnungslosigkeit niemals erläutert oder begründet. Raum und Zeit sind eine vielleicht schon postapokalyptische Welt, die der Leser so einfach hinnehmen muss:

„Den einsamsten aller Planeten hat mein Großvater die Erde genannt, weil hier jeder für sich allein kämpft und jeder für etwas stirbt, für das man gerne leben würde.“

Valerie Fritsch, Zitronen

Valerie Frisch, österreichische Schriftstellerin und Photografin, Jahrgang 1989, ist mit ihrem im Februar 2024 erschienen Roman „Zitronen“ zu Recht für den österreichischen Buchpreis nominiert worden.
Auf etwa 180 Seiten erzählt sie sprach- und bildgewaltig das Schicksal des jungen August Drach, der zuerst von seinem Vater geschlagen wird und als dieser plötzlich verschwindet, offenbart sich die wahre Natur seiner Mutter. Sie mischt ihm Medikamente unters Essen, um ihn krank zu machen und anschließend durch seine Pflege Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erhalten – ein Verhalten bekannt als Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Hier liegen Gewalt und Zärtlichkeit stets so dicht beieinander, das die Lektüre manchmal nur schwer auszuhalten ist – aber es lohnt sich dran zu bleiben.
Umrahmt wird das triste Leben des August Drach von zahlreichen morbiden Auflistungen: da sind die Einzelschicksale im Dorf und das Verschwinden zahlreicher Menschen, inklusive kleiner Kinder, in der Pflege gequälte Senioren, brutal zugerichtete Leichen im Leichenschauhaus, Mörder und ihre Verbrechen in der Nachbarschaft und vieles mehr. Inhaltlich ist der Roman nur schwer zu verdauen, sprachlich jedoch ein grandioses, selten vorkommendes literarisches Großereignis.

Ein paar willkürliche Zitate aus den ersten zwanzig Seiten:

„August Drach schoss stets als Letzter, schnell und ohne mit der Wimper zu zucken, als wüsste er schon, dass einem das Leben das Abwarten verzieh, aber nie das Zögern.“

„Sie lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablauf.“

„Sie liebte alles, was schön war, und fand manches schön, was anderen bloß wirr vorkam, weil es über das Paradies keine Einigkeit gab.“

„Der Vater rührte keinen Finger, aber erhob oft die Hand.“

„[…] er sagte nichts, nicht guten Morgen und nicht guten Abend, nicht bitte und nicht danke, das Haus vibrierte unter seiner Stummheit, das Schweigen wurde zum Faden, an dem hängend er sich in sich selbst verirrte und an dem er später zurückgehen musste, um aus dem Labyrinth seines Inneren herauszufinden.“

Sie spielt mit Gegensätzen, zeichnet ohne viele Adjektive überdeutliche Bilder, formuliert aphoristisch und man möchte sich hunderte ihrer Sätze merken, um diese bei nächster Gelegenheit zu zitieren.

Ein Mensch, der nie das Urvertrauen seiner Eltern kennengelernt hat, kann kein gelungenes Leben, keine gesunde Beziehung führen und so wird August Drach im zweiten Teil des Romans erwartungsgemäß in seiner ersten und einzigen Liebesbeziehung scheitern und der Roman auf ein krachendes Ende zusteuern. Mehr sei hier nicht verraten, nur die Mahnung: unbedingt lesen! Wer Valerie Fritsch nicht liest, übersieht eine wichtige deutschsprachige Gegenwartsautorin.

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