Autor: Thomas Außem (Seite 1 von 3)

Sylvie Schenk, In Erwartung eines Glücks

Sylvie Schenk, Jahrgang 1944, schreibt Lyrik auf Französisch und Romane auf Deutsch und war für mich – dank der SWR2 Bestenliste (Platz 1 im September 2025) – eine absolute Neuentdeckung, die meine Lektüre und Bibliothek in jedem Fall bereichert hat. Erschienen ist der etwa 170 Seiten lange Roman im Juni 2025 im Hanser Verlag.

Kurz zum Inhalt

Mit Verdacht auf einen Schlaganfall kommt die verwitwete Schriftstellering Irène ins Krankenhaus, muss dort für einige Tage zu Beobachtung bleiben und nutzt die Zeit, die anderen Patienten und Pflegekräfte zu beobachten und mit ihnen in Kontakt zu treten. Hierbei verschwimmen Realität, Wunschdenken, Traum und ihre Notizen für ein nächste Buchprojekt. In ihren Gedanken und Beobachtungen ist auch immer Houellebecq und sein Roman „Vernichten“, denn Irène ist eine begeisterte Houellebecq-Leserin. Sie denkt über ihr Leben, Verluste, Liebe und Hoffnung nach und notiert alles akribisch.

Mein persönliches Resümee

Ein Buch, dass einen von der ersten Seite an in seinen Bann ziehen kann. Nicht wegen seines Inhalts, sondern seiner Sprache wegen. Es ist eine dringliche Sprache, die weiß, dass ihr die Zeit davonfliegt. Es geht um Themen wie Altern, Verfall, Auflösung und Verluste und die müssen schnell und deutlich erzählt werden, aber stets mit einer Lust an Poesie und schönen Bildern, zum Beispiel:

„[…] sie [hätte] gerne einen Gute-Nacht-Kuss bekommen, für sie das Lippensiegel von zwei zueinander gehörenden Menschen oder, ja, man durfte es kühn sagen: die Wegzehrung für die Nacht.“ (S.35)

„Wenn sie niemanden mehr liebte, trug das Glück den Namen eines Gipfels, den man im Schweiße seines Angesichts erobert hatte. Das Unglück brauchte man sich nicht zu erschwitzen, es kam von selbst.“ (S. 21)

Neben der Sprache, macht es Spaß im Roman zu entdecken, wie sich die Erzählung über die Schriftstellerin Irène mit der Erzählung von der Schriftstellerin Irène vermengt. Unbedingt empfehlenswert: wer Sylvie Schenk noch nicht kennt, wird bereichert, wer sie kennt… ebenso.

Dimitrij Kapitelman, Russische Spezialitäten

Der im Februar 2025 im Hanser Verlag erschienene Roman „Russische Spezialitäten“ von Dimitrij Kapitelman hat Höhen und Tiefen, ist insgesamt betrachtet in jedem Fall eine Lektüre wert.

Ganz kurz zum Inhalt

Die „Russischen Spezialitäten“ werden in einem Laden der ukrainisch-jüdischen Familie des Ich-Erzählers verkauft und dieser Laden bietet vielen osteuropäischen Menschen neben dem Einkauf „heimischer“ Produkte vor allem einen kurzzeitigen Heimatersatz. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: im Ersten wird der Alltag und auch das Ende des Familiengeschäfts geschildert und dies dient in erster Linie als Schauplatz für den Konflikt zwischen Mutter und Sohn: die Mutter, die der russischen Propaganda hörig folgt und der Sohn, der möchte, dass sich seine Mutter mit dem Ukrainekrieg kritisch auseinandersetzt. Im zweiten Teil reist der Sohn alleine nach Kiew, um sich selbst ein Bild zu machen und vermeintlich um die Mutter von den Fakten zu überzeugen.

Mein persönliches Fazit

Erzählen kann Dimitrij Kapitelman, das ist vollkommen unstrittig, und sein vor Ironie und Wortwitz strotzender Roman liest sich gut und macht auch Freude. Und dennoch hatte ich während der Lektüre hin und wieder meine Schwierigkeiten mit dem Roman. Zum einen hatte ich bereits seine beiden ersten Romane „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ und „Eine Formalie in Kiew“ gelesen und habe im dritten Roman nun den Eindruck, dass sich viele Dinge wiederholen oder vorhersehen lassen, so dass ich einen vierten Roman nicht unbedingt mit Vorfreude erwarte. Nun sollte eine Vorfreude auf etwas Ungedrucktes das Gedruckte nicht beeinflussen, doch im Gesamtwerk des Autors sehe ich wenig große Bewegung.

Das Thema der Sprachproblematik und der „Mutterzungensprache“ ist zentral und in vielen Bildern plastisch dargestellt, manchmal ist es aber auch plumb und unverständlich, zum Beispiel: „Doch selbst als Mama ein rotes Schild an unserer Tür anbringt: „Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe“ fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass auch wir die Fliege (respektive Motte) machen müssen. Dieses Schild ist irgendwie bezeichnend für Mamas Verhältnis zur deutschen Sprache. Ein simples „Wir schließen, alles muss raus“ gestattet sie sich nicht. Und hält stattdessen an Substantive, als wären sie ein Zeichen der Zugehörigkeit.“ (S. 92) Das ist plumb, weil es nichts erklärt oder näherbringt.

Was mich ebenfalls in diesem Roman stark stört, ist die oftmals unnötige Politisierung und Pauschalisierung: in der deutschen Polizei arbeiten nur Neonazis, kein Notruf hilft, es reicht nicht, die überhand nehmenden AfD-Plakate zu beschreiben, nein, Kapitelman muss noch die Namen der Politiker von den Plakaten abschreiben und ein erstarkender Rechtsextremismus in Deutschland trifft am Ende die Familie des Ich-Erzählers, als eine „Nazistein“ durch ein Wohnungsfenster geworfen wird und die beginnende Versöhnung zwischen Mutter und Sohn jäh unterbricht. Auch wenn seine Mutter lediglich verlangt, dass sie hin und wieder ein Lebenszeichen Ihres Sohnes erhält wird dies politisiert: „Überhaupt hat meine Mutter darum gebeten, dass ich unterwegs öfter Besxcheid gebe, ob alles in Ordnung ist. Aber wie soll das eigentlich gehen? Hallo, Mama, der Massenmörder, den du unterstützt, hat mich nicht mitvernichtet. Gehe gleich georgisches Zazive-Hünchen essen.“ (S. 119).

Lesekreis bei der VHS Siebengebirge

Am 18. September startet bei der VHS Siebengebirge ein moderierter Lesekreis zu den literarischen Stimmen unserer Zeit. Hier sind noch Plätze frei.

In diesem Literaturkreis begleiten wir die Aktion „Bonn liest ein Buch“ und wir lesen jeden Monat einen Roman aus der Shortlist dieser Aktion. Wir starten mit der Lektüre von Dimitrij Kapitelman „Russische Spezialitäten“ und werden uns im Verlauf des Kurses gemeinsam auf eine vierte Lektüre einigen. Bei unseren Treffen reden wir darüber, was in dem jeweiligen Roman passiert, was die Lektüre bei uns auslöst, aber auch darüber, ob und wie der Text für uns „funktioniert“. Gerade die Vielfalt der Einschätzungen wird dazu führen, dass die Teilnehmer*innen immer wieder neue Facetten an ihrer Lektüre entdecken können. Außerdem erhalten Sie einen Einblick, wie Sie sprachliche und stilistische Mittel in der Lektüre erkennen und interpretieren können.

Materialien: Bitte lesen: „Russische Spezialitäten“ von Dimitrij Kapitelman bis zum ersten Treffen.

Veranstalter: VHS Siebengebirge in Kooperation mit Literatur im Siebengebirge e. V.

Kursnr.: D40101
Beginn: Do., 18.09.2025, 19:45 – 21:15 Uhr 
Anzahl der Kurstage: 4
Anzahl der UE: 8
Kursort: Mosaik, Raum 4
Gebühr: 44,80 € (inkl. MwSt.)

Jonas Baeck, Wenn die Sonne rauskommt, fahr ich ohne Geld

Ein kurzweiliges, unterhaltsames „Gute-Laune-Buch“, dass sich gut als Reise-Lektüre in den Koffer für die Sommerferien einpacken lässt. Der autobiografisch eingefärbte Roman „Wenn die Sonne rauskommt, fahr ich ohne Geld“ von Jonas Baeck erschien schon am 10. Januar 2019 im Kiepenheuer & Witsch-Verlag und er erzählt von den „wundersamen Dingen, die einem widerfahren können, wenn man das Geld zu Hause lässt und auf die eigene Intuition vertraut“ (Klappentext).

Kurz zum Inhalt

Der dreiundzwanzigjährige Ich-Erzähler Jonas, Schauspielschüler aus Bochum, schließt eine spontane Wette mit sich selbst ab und daraus folgend fährt er mit seinem Roller nach Irland um dort eine antiquarische Ausgabe von „Romeo und Julia“ zu kaufen und diese innerhalb von insgesamt 17 Tagen an seine Schauspielkollegin Magdalena zu übergeben und ihr damit seine Liebe zu gestehen. Der eigentliche Clou an der Geschichte: er will all dies ohne einen Cent Geld in der Tasche bewerkstelligen. Ganz ohne Geld geht es bekanntlich auch nicht und so muss er auf seiner Reise hin und wieder Geld verdienen, trifft auf unterschiedliche Menschen, die ihm überwiegend freundlich und unterstützend begegnen und erlebt zahlreiche Abenteuer, die auf knapp 270 Seiten dem Leser kurzweilig erzählt werden.

Resumee

Man kann schon zu Beginn des Buches ahnen, dass die Verliebtheit des Protagonisten eigentlich keine Basis und somit auch keine Zukunft hat, so dass das Ende nicht überrascht – manchen Lesern wird das Ende trotzdem vielleicht zu offen und unreflektiert sein. Doch dies soll den Unterhaltungswert des Buches nicht schmälern. Der Leser muss sich ganz und gar auf die Geschichte des Ich-Erzähler einlassen und nicht darüber hinausgehen, dann ist dieses lesenswerte Buch eine wunderbar unterhaltende Erfahrung eines jungen Mannes – dass das Leben ohne Geld auf der Straße ganz und gar nicht so romantisch ist, das wissen wir alle, aber das ist ja auch nicht Thema des Buches.

Arthur Schnitzler, Fräulein Else

Zwei Werke von Arthur Schnitzler sind frisch im Wallstein-Verlag erschienen: die Novelle „Fräulein Else“ von 1924 und „Doktor Gräsler, Badearzt“ von 1917 und ich kann nur hoffen, dass der Wallstein-Verlag mit dieser kommentierten Ausgabe ausreichend erfolgreich ist, dass weitere Bände aus dem Werk Schnitzlers erscheinen werden.

„Fräulein Else“ ist eine der ersten Novellen eines deutschen Autors, die sich ganz in der Technik des Bewusstseinstroms (stream of consciousness) verfasst sind und von Arthur Schnitzler (1862 – 1931) die zweite dieser Art, nach „Leutnant Gustl“ aus dem jahr 1900.

Zum Inhalt

Die neunzehnjährige Else verbringt alleine ein paar Ferientage in einem italienischen Kurort im Jahre 1896 und schildert in ihren koketten Gedanken die teils amourösen Beziehungen der anwesenden Gäste und ihre eigenen Wünsche nach ähnlichen Abenteuern. Die Leichtigkeit ihres Aufenthalts wird jäh unterbrochen von der Depeche ihrer Mutter, die vom erneuten finanziellen Desaster von Elses Vater berichtet, das nun endgültig den Ruin der Familie bedeuten und zur Haftstrafe für den Vater führen wird. In dieser Depesche wird Else eindringlich gebeten, einen Kurgast namens Dorsday – einem Geschäftsfreund des Vaters – um Geld für die Schuldentilgung zu bitten. Else ahnt schon Böses, doch steht sie zur familiären Verpflichtung und bittet Dorsday um das Geld, der wiederum einwilligt, sofern Else bereit ist, sich ihm für fünfzehn Minuten nackt zu zeigen.

Um all dies drehen sich Else Gedanken und die Situation spitzt sich dramatisch zu – und mehr soll hier nicht verraten werden.

Schnitzlers Novelle ist grandios und packt den Leser sprachlich und inhaltlich. Die Pein und Seelenqual ist aus jedem Gedanken ersichtlich und macht die Novelle – wie man heute so sagt – zum „page turner“.

Der Wallstein-Verlag hat hier aus der digitalen Schnitzler-Edition ein hervorragend editiertes Buch herausgegeben, mit sehr ausführlichen aber auch dezenten Anmerkungen, die den Lesefluss nicht stören, einer editorischen Notiz und einem ausführlichen Nachwort, das uns die Entstehungsgeschichte und die Wirkung der Erzählung erläutert und ebenso auf die Struktur der Novelle eingeht.

Ein hundert Jahre alter Klassiker in einer sehr schönen neuen Ausgabe – unbedingt empfehlenswert.

Kerstin Holzer, Thomas Mann macht Ferien

Pünktlich zum Thomas Mann Jubiläumsjahr erscheint ein weiteres Buch zu Thomas Mann, mit Thomas Mann, über Thomas Mann und es ist schwer in eine Kategorie zu fassen. Ist es eine Erzählung, ein Sachbuch oder eine Monografie? Aber fangen wir doch von vorne an.

Die gebürtige Bonnnerin Kerstin Holzer, Jahrgang 1967, ist durchaus eine Kennerin der Familie Mann, hat sie doch schon zwei bemerkenswerte Bücher über Monika Mann und Elisabeth Mann-Borgese geschrieben. In „Thomas Mann macht Ferien. Ein Sommer am See„, erschienen im April 2025 bei Kiepenheuer & Witsch, beschreibt sie die Sommerfrische der Familie Mann 1918 am Tegernsee. Der Aufenthalt ist davon geprägt, dass „Die Betrachtungen eines Unpolitischen“ kurz vor der Veröffentlichung steht und Thomas Mann schmerzhaft erkennen muss, dass er sich in seinen „unpolitischen“ Betrachtungen verkalkuliert hat und die Welt kurz vor Kriegsende eine ganz andere ist, als jene konservativ-monarchistische, die er in den Betrachtungen beschreibt und verteidigt. Zur Erholung schreibt er hier am See die Idylle „Herr und Hund“, genießt – soweit es für Thomas Mann eben geht – die Ferien im Kreise seiner Familie, freut sich an seinem Hund Bauchan und macht seine erste Bergwanderung auf einen immerhin knapp 1.700 Meter hohen Gipfel. Als dies ist dokumentiert, sachlich verbrieft und wird von Kerstin Holzer wunderbar leichtfüßig, tiefsinnig und fesselnd erzählt – vielleicht ist es eine neue Kategorie der „erzählenden Monografie“.

Ein Buch, dem durchaus viele Leser zu wünschen sind, denn es macht einfach Lust auf Thomas Mann und manch ein Leser wird nach dieser Lektüre zu Mann Erzählungen greifen und „Herr und Hund“ lesen.

Christop Hein, „Das Narrenschiff“

Der Chronist der DDR hat ein neues Buch herausgebracht: „Das Narrenschiff“ von Christoph Hein ist Ende März im Suhrkamp Verlag erschienen und in meinen Augen ein echter „Pageturner“.

Zum Inhalt

Anhand der Lebenswege zweier Familien, dem Ehepaar Goretzka mit Ihren Kindern und Enkelkindern sowie den kinderlosen Emser, wird die Geschichte der DDR von der Gruppe Ulbricht bis zum Mauerfall erzählt und wir bekommen tiefe Einblicke in das Leben der Opportunisten.

Ein Fazit

Christoph Hein ist in seinem neuen Roman in erster Linie ein Chronist, ein neutraler Berichterstatter, der keine Wertungen abgibt oder diese auch nur in Nuancen andeutet. Und diese glänzend geschriebene Berichterstattung aus der auktorialen Perspektive will man immer weiterlesen. Neben dem literarischen Genuss an dieser Lektüre, hat es mich auch wieder neugierig gemacht, mich wieder mit der Geschichte der DDR und der Wiedervereinigung zu beschäftigen.
Daher an dieser Stelle noch zwei weiterführende Tipps in der Sachliteratur:

  • Geo Epoche Nr. 64, „Die DDR“
  • Anita Blasberg, „Der Verlust“, Rowohlt, Hamburg 2022

Erich Kästner „Als ich ein kleiner Junge war“

Erich Kästner gehört auch heute noch zu den meistgelesenen deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren und seine Werke werden weiterhin aktuell im Atrium Verlag aufgelegt, so auch der autobiographische Roman „Als ich ein kleiner Junge war„.

Wer sich mit dem Leben und Werk von Erich Kästner auseinander setzen will, kommt um dieses 1958 erstmals veröffentliche Buch nicht drum herum und zahlreiche Biografien zitieren aus dieser autobiographischen Schrift oder orientieren sich an diesem Buch bezüglich der Kindheitsjahre des Autors.

Kästner schildert in seinem amüsanten und leicht ironischen Plauderton seine Kindheitserlebnisse von 1899 bis 1914, die Geschichte seiner Vorfahren und ganz besonders die Geschichte und Atmosphäre seiner Geburtsstadt Dresden, die im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Erich Kästner ist allemal für eine Weiterempfehlung gut, bedingungslos wenn wir es uns untereinander als Fünfzigjährige oder Ältere weiterempfehlen, die wir hier in Erinnerungen schwelgen können. Ob Erich Kästner heute wirklich von Kindern mit Freude gelesen wird oder gelesen werden kann, daran habe ich meine Zweifel. Es sind nicht die Geschichten an sich, denn die können die heutigen Kinder ebenso begeistern, wie vor 75 oder 100 Jahren. Nein, es ist die Sprache, insbesondere die Wortwahl, die vielen Kindern und Jugendlichen heute fremd erscheinen wird, denn Kästner schreibt in einer Sprache, deren Bedeutung sich heute jungen Menschen nicht mehr so einfach erschließt. Worte wie Litfaßsäule, Schutzmann, Konsumverein, Teppichstange, Droschke, Semmeln, Hosenboden, um nur wenige Beispiele zu nennen, sind aus dem Sprachschatz von Kindern längst verschwunden. Außerdem schreibt Kästner über einen Alltag, den es so heute überhaupt nicht mehr gibt und der für die jungen Leser sehr befremdlich erscheinen mag.

Trotzdem: mit Anleitung und Unterstützung sind Kästners Bücher und Geschichten auch heute noch Gold wert – im wahrsten Sinne des Wortes.

Alois Prinz, Sie ist ein lebendiges Feuer

Wenn überhaupt, dann ist Milena Jesenská als Adressatin von Franz Kafkas Briefen an Milena bekannt, doch mit der 2016 bei Geltz & Gelberg erstmals erschienenen und 2018 erneut bei Insel aufgelegten Biographie „Sie ist ein lebendiges Feuer. Das Leben der Milena Jesenská“ ist Alois Prinz der große Verdienst anzurechnen, dass er mit seinem Buch Milena Jesenská aus dem Schatten von Franz Kafka holt, ihr außergewöhnliches Leben bewegend schildert und sie erneut in das öffentliche Gedächtnis trägt.

Kurz zum Inhalt

Alois Prinz erzählt das Leben der Milena Jesenská dicht und atmosphärisch: wir erleben ein elfjähriges Mädchen, das die todkranke Mutter pflegt, die junge Frau, die gegen ihren Vater und die Gesellschaft aufbegehrt und wegen „ihres unschicklichen Benehmens“ von ihrem Vater in die Psychiatrie eingewiesen wird, ihre Flucht in die Ehe mit Ernst Polak und nach Wien, ihre Diebstähle, ihren Drogenkonsum, ihre Gefängnisaufenthalte, ihre Beziehungen zu verschiedenen Männern, ihre Liebe zu Franz Kafka, ihr Verkehr unter Prager und Wiener Intellektuellen, ihre Mühen als alleinerziehende Mutter, ihre Beobachtungsgabe in ihren Reportagen, ihr Engagement für den Sozialismus, ihr Widerstand gegen die Nationalsozialisten in Prag, ihre Verhaftung durch die Gestapo und schließlich ihre Haft und ihren Tod im Konzentrationslager Ravensbrück. Prinz vermittelt eindrücklich auf etwa 200 Seiten das hingebungsvolle und verschwenderische Leben einer Frau voller Lebenshunger, die sich stets ins Leben fallen ließ: immer handelnd, gebend und liebend, wie es der Autor am Ende des Buches zusammenfasst.

Milena Jesenská wurde am 10. August 1896 in Prag geboren und starb am 17. Mai 1944 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück an den Folgen einer Nierenoperation. 1995 wurde ihr Name in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem in eine Tafel eingraviert und sie wurde als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Damit erfuhr sie posthum die Ehrung dafür, dass seit 1939 ihre Prager Wohnung „zum Unterschlupf für tschechische Soldaten, für Juden und politisch Verfolgte“ (Prinz, S. 171) wurde und sie und Graf von Zedtwitz zahlreichen vom Nationalsozialismus Verfolgten zur Flucht verhalfen.

Milena Jesenská war trotz der starren Rollenverteilung ihrer Lebenszeit eine freie, emanzipierte Frau, eine engagierte Sozialistin und eine mutige Widerstandskämpferin. In ihrem ganzen Leben kämpfte sie gegen innere und äußere Dämonen, gegen ihre Sucht und die Ungerechtigkeit in der Welt und ist noch heute ein beispielloses Vorbild für eine starke Frau- eine Frau, die uns Mut machen kann. All dies erzählt uns Alois Prinz in seiner Biografie, die auch eine Zeittafel und ein ausführliches Literaturverzeichnis enthält, sehr eindrücklich.

Der Autor

Ein paar Worte zu Alois Prinz: der deutsche Schriftsteller, Jahrgang 1958, schreibt vorwiegend Biographien für junge Erwachsene und wurde 2023 für sein Gesamtwerk mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Er schrieb unter anderem, neben der hier vorgestellten Lebensgeschichte von Milena Jesenská, auch Biografien über Franz Kafka, Martin Luther, Herrmann Hesse, Hanna Arendt, Simone de Beauvoir und viele andere Persönlichkeiten.

Annegret Liebold, Unter Grund

Im Februar 2025 ist im Blessing Verlag der Debütroman „Unter Grund“ von der jungen Autorin Annegret Liepold erschienen – und ich sage es vorab: mich hat der Roman nicht überzeugt.

Nur ganz kurz zum Inhalt

Während die junge Referendarin mit ihren Schülern in München, einen der NSU-Prozesstage um Beate Zschäpe verfolgt, erleidet sie einen Zusammenbruch und wird von den Dämonen ihrer Vergangenheit eingeholt. Sie verlässt Hals über Kopf München und geht zu Besuch zurück in ihr Heimatdorf in Franken. In Rückblenden erfahren wir langsam Details aus Ihrer Vergangenheit, wie sie als Aussenseiterin in Familie und Schule Anschluß suche und diesen schließlich in einem rechtsradikalen Milieu findet. Das dies nicht gut gehen kann, ahnt man schon.

Mein Fazit

Gelesen wurde das Buch in einem Lesekreis und überwiegend von den anderen Leserinnen positiv aufgenommen, das sei hier erwähnt, da mein Fazit sehr subjektiv ist – ist schon klar, soll aber nochmals hervorgehoben sein. Der Roman könnte zur Kategorie „Coming of age“ oder zum „Entwicklungsroman“ zählen, aber beim besten Willen ist eine Entwicklung nicht wirklich zu erkennen, man könnte sie reindeuten, aber die Autorin gibt sie nicht vor. Der Roman will die verführerische Kraft des Rechtsextremismus auf soziale Außenseiter beschreiben, doch ist die Protagonistin stets so reflektiert, dass man überhaupt nicht verstehen kann, wie sie in diesen Sog der rechten Gewalt und Ideologie gerät. Ich habe den Eindruck, dass die Autorin permanent Angst hat, dass die Lesern nicht unterscheiden könnten zwischen Autor, Erzähler und Erzähltem – eine Angst, die ich in diesen manchmal hysterisch aufgeregten Zeiten durchaus verstehen kann. Und diese Angst hätte das Lektorat der jungen Autorin nehmen müssen, um dem Roman noch einen guten Schliff zu geben, der ihn am Ende vielleicht auch glaubhaft gemacht hätte.

Daneben ist das Buch unglaublich zäh zu lesen. Im Prinzip ist auf Seite eins schon klar, wohin in die Reise geht, doch die Autorin müht sich in Vor- und Rückblenden Spannung aufzubauen – was ihr nicht gelingt – und kommt einfach nicht auf den Punkt.

Annegret Liepold, Unter Grund
München 2025, Karl Blessing Verlag
255 Seiten, 24,00 EUR

« Ältere Beiträge

© 2025

Theme von Anders NorénHoch ↑