Ins Wasser springen und von einem leichten Sog oder einer langsamen Strömung weggerissen werden, ohne dass die Angst überhand nimmt, das rettende Ufer zu verlieren – das ist der Lesegenuss von Caroline Wahls „22 Bahnen“.

Zum Inhalt lassen wir die ersten Zeilen des Klappentextes sprechen: „Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten auch um ihre Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße, in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung […]“.

Das klingt düster und ist es in der Realität auch, doch fokussiert sich der Roman auf eine starke, helfende Bindung zwischen zwei Schwestern und der Leser kann, nicht zuletzt wegen eines offenen Endes, optimistisch in die Zukunft der Protagonisten schauen.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Tilda erzählt und die Autorin Caroline Wahl rauscht im Präsens in szenischer Erzählweise, unterbrochen durch Rückblenden im Präteritum, die ihrerseits wiederum im Präsens unterbrochen werden, durch die Geschichte von Tilda, ihrer Familie und ihren Freunden. Der Roman gleicht einem temporeichen Kinofilm, der auf ein Ende zu steuern droht, welches wir nicht sehen wollen. Wie schon oben mit dem offenen Ende „gespoilert“, wird glücklicherweise die Drohung nicht immer wahr. Stets blitzt das Geheimnis eines Unfalls vor einigen Jahren auf, von dem wir erst am Schluss einige Details, aber bei weitem nicht alles erfahren. Mit diesen Tempo und dem Geheimnis entwickelt der Roman eine Sogwirkung, die den Leser das Buch nur ungerne zur Seite legen lässt.

Glücklicherweise bietet uns die Autorin in einigen Motiven immer wieder eine Rast an. So wiederholt sich die Szene, wenn Tilda an der Supermarktkasse, die Artikel mit den Augen scannt und versucht Summe des Einkaufs und Charakter des Käufers einzuschätzen oder das Schwimmritual, das Tilda immer wieder die titelgebenden 22 Bahnen schwimmen läßt – eigentlich sind es eher 20 +/-5, aber dazu gibt die Lektüre Aufschluss oder die Bedeutung eines geregelten allabendlichen gedeckten Abendbrottisches.

Caroline Wahls Debütroman ist in meinen Augen zu recht hochgelobt, denn seine beschriebene Sogwirkung ist außergewöhnlich. Nicht einmalig, aber vielleicht für das Literaturjahr 2023 herausragend. Der große Erfolg setzt die junge Autorin gewiss unter Druck und es bleibt abzuwarten, ob sie diesem Stand halten kann und uns weitere hervorragende Romane bieten kann. Der Nachfolgeroman „Windstärke 17“, der das obige Rezept wiederholt und aus der Ich-Perspektive von Ida erzählt, hat mich nicht überzeugt. Ich kam über die ersten Seiten nicht hinaus.