Monat: Januar 2025

Saša Stanišic, Wolf

Der 2023 im Carlsen Verlag erschienene Roman „Wolf“ von Saša Stanišic ist das erste Kinder- oder Jugendbuch des Autors, der insbesondere mit seinen Romanen „Herkunft“ und „Vor dem Fest“ große Erfolge feierte und einer größeren Leserschaft bekannt wurde.

Das Buch ist schön gestaltet, von Saša Stanišic beinahe durchgängig hervorragend erzählt und mit zahlreichen ausdrucksstarken, situativ passenden Bildern von Regina Kehn illustriert. Das Buch wurde mit zahlreichen Preisen, wie zum Beispiel dem Jugendliteraturpreis 2024 als bestes Kinderbuch, ausgezeichnet. Und dennoch läßt mich das Buch ratlos zurück, da es ein überhastetes Ende findet, was die ganze gute Vorarbeit in diesem zu Beginn grandiosen Roman leider zunichte macht.

Wie immer nur kurz zum Inhalt

Der jugendliche Kemi wird gegen seinen Willen von seiner Mutter in ein Sommerferienlager geschickt, wo er auf Jörg trifft, der irgendwie „andersiger“ als alle anderen ist und dadurch zum Mobbingopfer insbesondere von Marko, einem weiteren Ferienlagerteilnehmer, und dessen Spießgesellen wird. Das Mobbing ist für alle sichtbar und doch bleiben alle nur passive Zuschauer, Kinder und Erwachsene greifen überhaupt nicht oder nur sehr zögernd und halbherzig ein. Und genau das macht den Roman grandios, nämlich dass er in einer kindernahen Sprache schildert, wieviel Mut es braucht, Mobbingopfern beizustehen.
Der neumal kluge, frühreife Kemi liefert sich witzige Dialoge mit den Betreuen, um sich vor den Gemeinschaftsaktivitäten zu drücken, da „er die Natur an sich ablehnt“, der lebenserfahrene Außenseiter Jörg wird liebevoll dargestellt und der erwachsene Leser weiß gar nicht so recht, warum ausgerechnet Jörg und nicht Kemi zum Mobbingopfer wird und alle Ferienbetreuer sind ganz eigene Charaktere – dies alles schildert Saša Stanišic fesselnd bis zum letzten Ferientag.

Das bittere Ende

Auf den letzten zwölf Seiten kommt die Försterin ins Ferienlager und hält eine flammende Rede für den Klimaschutz. Gegen dieses Thema ist überhaupt nichts einzuwenden und diese Passage ist überaus witzig geschrieben, jedoch entsteht hier auch der Eindruck, dass der Autor auch dieses Thema noch in seinen Roman über Mobbing noch mit einbauen wollte – climate change sells. Auch das Lehrermaterial zu diesem Roman greift dies gerne auf und nennt eines der zentralen Themen dieses Buch „Natur und Naturschutz“, was bei aller Liebe einfach Quatsch ist.
Es kommt aber noch schlimmer. Am Ende des Romans und am Ende des Ferienlagers bleibt alles so wie es war. Es gibt für niemanden Konsequenzen, es gibt keine wesentliche Änderungen, es gibt keine Hoffnung auf Besserung, es gibt kaum Einsichten und wir ahnen oder wissen: die Zuschauer bleiben weiterhin Zuschauer und die Mobbingopfer werden weiter leiden.
Es ist an sich gelungen, dass uns der Autor nicht mit einem süßholzraspelnden Happy-End belästigt, dennoch bin ich der Meinung, dass ein Kinderbuch im Schluss eine andere Botschaft übermitteln sollte.

Fazit

Trotz des Endes, mit dem ich ganz und gar nicht zufrieden bin, wünsche ich dem Buch viele Leser, da es das Thema Mobbing sowie den Mut sich dem entgegen zu stellen sehr eindrücklich darstellt. Neben diesem ernsthaften Thema ist es aber auch ein sehr unterhaltsames Buch mit zahlreichen lustigen Dialogen der beiden Außenseiter Kemi und Jörg.

Alina Bronsky, „Pi mal Daumen“

Der neue Roman „Pi mal Daumen“ von Alina Bronsky, im August 2024 erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch (ca. 270 Seiten, 24,00 Euro) ist ein überaus charmanter Lesegenuss und kann nur wärmstens empfohlen werden.

Nur ganz wenig zum Inhalt

Zwei Außenseiter der Gesellschaft, die dreiundfünfzigjährige Moni Kosinsky und der sechszehnjährige Oscar Maria Wilhelm Graf von Ebersdorff treffen in einer Mathematikvorlesung in der Universität aufeinander und schließen eine ungewöhnliche Freundschaft. Moni ist bereits mehrfache Großmutter, wird von allen für dumm gehalten und möchte sich ihren Traum vom Mathematikstudium erfüllen. Oscar, hochbegabt und aus dem autistischen Spektrum, sieht sich selbst als einziger diesem Studium gewachsen. Aus der Begegnung zwischen der absolut lebenstauglichen, liebenswerten Oma und dem absolut lebensfremden, schrulligen Oscar entstehen zahlreiche witzige Dialoge und überraschende Szenen. Und das wird von Alina Bronsky so leichtfüßig und sympathisch geschildert, dass man das Buch gar nicht aus den Händen legt.

Fazit

Das Buch ist eine wunderschöne Lektüre und eine kurzweilige Unterhaltung auf hohem Niveau. Hier steht der Inhalt und die Situationskomik ganz klar im Vordergrund und dies wird von der leichtfüßigen Sprache von Alina Bronsky, die immer die passenden Worte für Oscar und die passende Handlung für Moni findet bestens getragen. Eine unbedingte Leseempfehlung, so sehen es auch die Unabhängigen Buchhandlungen, die diesen Roman zum „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ gewählt haben.

Hintergrund

Alina Bronsky, selbst Mutter von vier Kindern, weiß wovon sie schreibt, denn sie selbst hat als über dreißigjährige Mutter nochmals die Universität besucht, um unter anderem auch Mathematikvorlesungen zu besuchen. Hierüber berichtet sie im Interview mit ihrem Verlag.

Paul Lynch, „Das Lied des Propheten“

Viel zu viel Lob…

„Das Buch der Stunde“ … „zentrales Buch für unsere Zeit“ … „politischer Warnruf“ … „beklemmend, intensiv, atemberaubend“ – Kritik, Presse und Rezensionen sind überwiegend begeistert von Paul Lynchs neuem Roman „Das Lied des Propheten„, 2023 erschienen und 2024 durch Eike Schönfeld im Klett-Cotta Verlag übersetzt – eine Beurteilung, die viel zu einfach und zu oberflächlich gefällt wird und der ich mich nicht anschließen kann. Doch eins nach dem anderen.

Kurz gefasst der Inhalt

Der etwa 300 Seiten umfassende Roman spielt im Irland der Gegenwart, das in die Tyrannei abdriftet. Eines Abends stehen zwei Geheimdienstagenten, sogenannte Gardas, vor der Tür der vierfachen Mutter Eilish Stack und verlangen ihren Mann Larry, Lehrer und Gewerkschafter, zu sprechen, der jedoch nicht zu Hause ist. Wenige Tage nach diesem Ereignis verschwindet Larry spurlos und Eilishs Welt gerät aus den Fugen. Zunächst sucht sie noch nach ihrem Ehemann, doch mit jedem Tag wird ihr Leben schwerer und sie verliert zunächst einen Sohn an die Rebellen und schließlich einen weiteren Sohn durch die Folter der Geheimpolizei. Sie verliert ihre Arbeit, ihre Familie, ihr soziales Umfeld, ihr Zuhause, ihren Vater an Demenz und bevor sie alle Hoffnung verliert endet das Buch damit, dass sie mit ihren zwei verbliebenen Kindern in ein Schlauchboot steigt, um die Flucht aus Irland anzutreten.

Was fehlt

Soweit kurz zusammengefaßt der Inhalt des Buchs. Und genauso lückenhaft wie diese Zusammenfassung ist auch der Roman selber. Viele Dinge erschließen sich dem Leser überhaupt nicht. So wird zum Beispiel der zweitälteste Sohn von einem Granatsplitter getroffen, soll operiert werden und wird später als tödliches Opfer der Folter der Geheimpolizei von der Mutter identifiziert – das ist nicht stimmig, da fehlt etwas, denn jede Tyrannei folgt einer Logik, die willkürlich erscheint, jedoch einer Kausalkette zugrunde liegt, die uns Paul Lynch hier einfach verschweigt. Ein anderes Beispiel wäre die Hochzeitsszene: Eilish ist zu Beginn des Romans zur Hochzeit ihrer Cousine eingeladen und dort stehen alle Festgäste, außer Eilish Stack, auf und singen stolz die Nationalhymne anstelle emotionale Hochzeitsreden zu halten. Aber wie es es dazu kommt? Auch das verschweigt Paul Lynch. Und genau das könnte einen Roman zu einem „Buch der Stunde“ machen, wenn er nämlich ein mögliches Szenario darstellte, wie plötzlich Tausende oder Millionen Menschen zu Opportunisten werden können, wie Regime entstehen können. Aber genau zu diesem Punkt schweigt der Autor und macht es sich damit viel zu einfach.

Schlecht ist der Roman gewiss nicht, doch das übertriebene Lob und die zahlreichen Superlative hat er gewiss ebenso wenig verdient. Bemerkenswert ist immerhin die Sprache und formale Gestaltung von Paul Lynch. Der Roman ist komplett im Präsenz geschrieben, es gibt keine Umbrüche und die direkte Rede ist direkt und ohne Anführungszeichen oder ähnlichem in den Fließtext eingebettet. Das macht die Sprache und die Erzählung schnell und der Leser wird geradezu eingesogen in die Geschichte, die auch durchaus spannend zu lesen ist.

Mein Fazit

Wer „Das Lied des Propheten“ liest erhält gute, spannende Unterhaltung, aber keine tiefgründigen oder neuen Erkenntnisse. Wer den Roman nicht liest, braucht keine Angst zu haben, irgendetwas verpasst zu haben.

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