Monat: Dezember 2024

Valerie Fritsch, „Winters Garten“

Valerie Fritsch spielt in einer ganz anderen Liga als zahlreiche gleichaltrige Autoren und Autorinnen im deutschsprachigen Raum – um an dieser Stelle auch mal eine Redensart aus dem Sport anzubringen. Und auch der 2016 im Suhrkamp Verlag erschienene Roman „Winters Garten“ stellt dies unter Beweis.

Wer den aktuellen Roman „Zitronen“ von Valerie Fritsch gelesen hat, der möchte vielleicht mehr über die Autorin erfahren beziehungsweise mehr von ihr lesen und wird bei einer Recherche zu ihrem Werk unweigerlich auf „Winters Garten“ und „Herzklappen von Johnson und Johnson“ stoßen – so ist es auch mir ergangen.

Auch in „Winters Garten“ bietet Valerie Fritsch eine sprach- und bildgewaltige Prosa und phänomenale Sätze und Einsichten, die den Leser nachdenklich machen, zum Beispiel: „Die Jungen suchten mit der Dringlichkeit des Anbeginns die Wege, die sie gehen wollten, und die Alten gingen in Demut die Wege zu Ende, die sie einst gewählt hatten.“

Es ist eine apokalyptische Welt in die der Protagonist Anton Winter hineingeboren wird. Er verbringt seine Kindheit und Jugend mit seiner Familie in einem paradiesischen Garten, geht als erwachsener Mann und Vogelzüchter in die Stadt, die bereits im Verfall befindlich ist, lernt dort seine Liebe Frederike kennen und kehrt mit dieser anschließend zurück in den Garten, der mittlerweile ganz verlassen und verkommen ist, zurück. Der Roman thematisiert eine Gegenwart, die keinem etwas zu bieten hat, eine Liebe, die Halt aber kaum Hoffnung gibt. Vieles lässt sich als Parabel auf das moderne Leben und die Sehnsüchte der Menschen lesen, aber mir war bei der Lektüre dieses Buches der Inhalt weniger wichtig als die Sprache und die einzelnen Bilder:

„Für Anton Winter war die Kindheit vollgestopft mit hohen Gräsern und Teerosen und grünen Äpfeln in den Bäumen, die man den ganzen Sommer über so begehrlich ansah, dass sie irgendwann schüchtern erröteten.“

Inhaltlich läßt sich vielleicht sogar kritisieren, dass hier einige Lücken existieren, wenn zum Beispiel von einem Krieg die Rede ist, man aber niemals erfährt, wer hier warum kämpft und ob dieser Krieg noch andauert oder schon lange vorbei ist. Außerdem lesen wir von Massenselbstmorden, erfahren aber niemals die Hintergründe hierzu. Ebenso wird die um sich greifende Hoffnungslosigkeit niemals erläutert oder begründet. Raum und Zeit sind eine vielleicht schon postapokalyptische Welt, die der Leser so einfach hinnehmen muss:

„Den einsamsten aller Planeten hat mein Großvater die Erde genannt, weil hier jeder für sich allein kämpft und jeder für etwas stirbt, für das man gerne leben würde.“

Lucy Fricke, Das Fest

Der im Oktober 2024 im Claasen Verlag erschienene Roman „Das Fest“ von Lucy Fricke ist nur gute 130 Seiten lang und leicht und schnell zu lesen. Lucy Fricke ist hier eine sehr schöne Geschichte gelungen – der einzige Wermutstropfen ist die Tatsache, die doch auch den Verlagen ins Auge springen muss, dass ein Buch mit diesem Umfang für einen Preis von 20,00 EUR sehr teuer ist.

Doch kurz zum Inhalt: Der Protagonist Jakob wird fünfzig und zieht Bilanz. Er will nicht feiern, sieht sich gescheitert und badet gerne in Selbstmitleid und düsteren Perspektiven. Seine alte Freundin Ellen arrangiert für ihn an diesem Tag einige „zufällige“ Treffen mit alten Wegbegleitern, die seine Sicht aufs Leben bis zum Abend, der in einem rauschenden Fest endet, ändern wird. Bis dahin wird er unter anderem einen Zahn verlieren, sich den Fuß verstauchen, ein blaues Auge bekommen und buchstäblich eine dicke Lippe riskieren.

In sieben kurzen Kapiteln durchleben wir mit Jakob und seinen Wegbegleitern sein Leben und lernen, dass sich uns das Leben darbietet, das wir es beim Schopfe packen müssen, jeden einzelnen Moment, denn „wenn zu viele Fragen auf einen zu kurzen Moment trafen, verstrich er in aller Regel ohne jedes Ergebnis.“ Lassen wir die Fragen beiseite, gibt es so viel im Leben zu entdecken und zu genießen.

Der Roman ist überaus unterhaltsam und komisch, ebenso melancholisch wie optimistisch und die Autorin bietet immer wieder weise Anker über das Leben und das Älterwerden: „Je älter wir werden, desto mehr geht es um das, was wir verlieren können, weniger um das, was es zu gewinnen gibt.“

Wie wir alle, so sucht auch Jakob das Glück im Leben, glaubt es in der Vergangenheit zu sehen, die aber unwiederbringlich verloren ist und vergisst dabei, dass sie damals „vor allem ahnungslos gewesen [seien] und zudem jeden Abend betrunken. Ein Zustand, den man sehr leicht mit dem Glücklichsein verwechseln könnte.“

Valerie Fritsch, Zitronen

Valerie Frisch, österreichische Schriftstellerin und Photografin, Jahrgang 1989, ist mit ihrem im Februar 2024 erschienen Roman „Zitronen“ zu Recht für den österreichischen Buchpreis nominiert worden.
Auf etwa 180 Seiten erzählt sie sprach- und bildgewaltig das Schicksal des jungen August Drach, der zuerst von seinem Vater geschlagen wird und als dieser plötzlich verschwindet, offenbart sich die wahre Natur seiner Mutter. Sie mischt ihm Medikamente unters Essen, um ihn krank zu machen und anschließend durch seine Pflege Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erhalten – ein Verhalten bekannt als Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Hier liegen Gewalt und Zärtlichkeit stets so dicht beieinander, das die Lektüre manchmal nur schwer auszuhalten ist – aber es lohnt sich dran zu bleiben.
Umrahmt wird das triste Leben des August Drach von zahlreichen morbiden Auflistungen: da sind die Einzelschicksale im Dorf und das Verschwinden zahlreicher Menschen, inklusive kleiner Kinder, in der Pflege gequälte Senioren, brutal zugerichtete Leichen im Leichenschauhaus, Mörder und ihre Verbrechen in der Nachbarschaft und vieles mehr. Inhaltlich ist der Roman nur schwer zu verdauen, sprachlich jedoch ein grandioses, selten vorkommendes literarisches Großereignis.

Ein paar willkürliche Zitate aus den ersten zwanzig Seiten:

„August Drach schoss stets als Letzter, schnell und ohne mit der Wimper zu zucken, als wüsste er schon, dass einem das Leben das Abwarten verzieh, aber nie das Zögern.“

„Sie lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablauf.“

„Sie liebte alles, was schön war, und fand manches schön, was anderen bloß wirr vorkam, weil es über das Paradies keine Einigkeit gab.“

„Der Vater rührte keinen Finger, aber erhob oft die Hand.“

„[…] er sagte nichts, nicht guten Morgen und nicht guten Abend, nicht bitte und nicht danke, das Haus vibrierte unter seiner Stummheit, das Schweigen wurde zum Faden, an dem hängend er sich in sich selbst verirrte und an dem er später zurückgehen musste, um aus dem Labyrinth seines Inneren herauszufinden.“

Sie spielt mit Gegensätzen, zeichnet ohne viele Adjektive überdeutliche Bilder, formuliert aphoristisch und man möchte sich hunderte ihrer Sätze merken, um diese bei nächster Gelegenheit zu zitieren.

Ein Mensch, der nie das Urvertrauen seiner Eltern kennengelernt hat, kann kein gelungenes Leben, keine gesunde Beziehung führen und so wird August Drach im zweiten Teil des Romans erwartungsgemäß in seiner ersten und einzigen Liebesbeziehung scheitern und der Roman auf ein krachendes Ende zusteuern. Mehr sei hier nicht verraten, nur die Mahnung: unbedingt lesen! Wer Valerie Fritsch nicht liest, übersieht eine wichtige deutschsprachige Gegenwartsautorin.

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