Monat: September 2024

Matthias Jügler, Maifliegenzeit

„Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert.“

Mit diesem Satz könnte man den 2024 im Penguin Book Verlag erschienen Roman des 1984 in Halle an der Saale geborenen Matthias Jügler durchaus zusammenfassen und damit wäre das immer wiederkehrende Hauptmotiv der Wahrheitssuche auch bestens beschrieben. Aber zuerst etwas ganz anderes vorweg: wer diesen Roman lesen und genießen möchte, dem sei er auf jeden Fall ans Herz gelegt, aber dringend nur unter folgender Bedingung zu konsumieren: keine Recherche vorab zu diesem Buch im Netz und alle Klappentexte und Beipackzettel unbedingt ignorieren. Einfach nur den Roman als Roman genießen.

Die jungen Eltern Hans und Katrin freuen sich auf ihr erstes Kind, erleben jedoch nach der Geburt den Albtraum, dass ihr Kind für tot erklärt wird, ohne dass sie es nochmals zu sehen bekommen. Katrin hat von Anfang an ein ungutes Gefühl und glaubt, dass ihr Sohn lebt, Hans kann nichts tun und möchte das Katrin das Unglück akzeptiert. Darüber zerbricht ihre Beziehung und in beider Leben bleiben Zweifel und Misstrauen, immer wieder Suchen und Hoffen und steht der Wunsch endlich die Wahrheit zu erfahren. Dies ist – ohne weiteres verraten zu wollen – eine Ebene des Roman, die vom traumatischen Verlust, von folgenschweren Zweifeln, einem Neubeginn und einer hoffnungsvoller Suche erzählt.

Daneben gibt es noch die Ebene der Bilder aus der Angelwelt. Hans ist Angler, letztlich angetrieben durch das Hobby seiner verstorbenen Vaters, der immer wundersame Geschichten von Fischen erzählt, die Hans, seine Geschwister und seine Mutter ihrem Vater niemals geglaubt haben, weil der Vater selten etwas vom Angeln mit nach Hause brachte und seine sonderbaren Fische niemals zu sehen waren. Dies – und der Blick auf die verborgene Wahrheit ändert sich – als Hans selber zu angeln beginnt und sich eine wundersame Geschichte seines Vaters nach der anderen als Wahr herausstellt.

Ein kurzweiliger, wunderbar erzählter Roman, der zudem spannend ist, so dass er mit seinen etwa 150 Seiten auch schnell durchgelesen ist.

Der Autor wurde und wird für diesen Roman und seine Geschichte heftig kritisiert, hieran will ich mich aber nicht beteiligen, denn die Frage ob die Fiktion eine reale Basis hat, ist nicht zwingend relevant für den Lesegenuss.

Caroline Wahl, 22 Bahnen

Ins Wasser springen und von einem leichten Sog oder einer langsamen Strömung weggerissen werden, ohne dass die Angst überhand nimmt, das rettende Ufer zu verlieren – das ist der Lesegenuss von Caroline Wahls „22 Bahnen“.

Zum Inhalt lassen wir die ersten Zeilen des Klappentextes sprechen: „Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten auch um ihre Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße, in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung […]“.

Das klingt düster und ist es in der Realität auch, doch fokussiert sich der Roman auf eine starke, helfende Bindung zwischen zwei Schwestern und der Leser kann, nicht zuletzt wegen eines offenen Endes, optimistisch in die Zukunft der Protagonisten schauen.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Tilda erzählt und die Autorin Caroline Wahl rauscht im Präsens in szenischer Erzählweise, unterbrochen durch Rückblenden im Präteritum, die ihrerseits wiederum im Präsens unterbrochen werden, durch die Geschichte von Tilda, ihrer Familie und ihren Freunden. Der Roman gleicht einem temporeichen Kinofilm, der auf ein Ende zu steuern droht, welches wir nicht sehen wollen. Wie schon oben mit dem offenen Ende „gespoilert“, wird glücklicherweise die Drohung nicht immer wahr. Stets blitzt das Geheimnis eines Unfalls vor einigen Jahren auf, von dem wir erst am Schluss einige Details, aber bei weitem nicht alles erfahren. Mit diesen Tempo und dem Geheimnis entwickelt der Roman eine Sogwirkung, die den Leser das Buch nur ungerne zur Seite legen lässt.

Glücklicherweise bietet uns die Autorin in einigen Motiven immer wieder eine Rast an. So wiederholt sich die Szene, wenn Tilda an der Supermarktkasse, die Artikel mit den Augen scannt und versucht Summe des Einkaufs und Charakter des Käufers einzuschätzen oder das Schwimmritual, das Tilda immer wieder die titelgebenden 22 Bahnen schwimmen läßt – eigentlich sind es eher 20 +/-5, aber dazu gibt die Lektüre Aufschluss oder die Bedeutung eines geregelten allabendlichen gedeckten Abendbrottisches.

Caroline Wahls Debütroman ist in meinen Augen zu recht hochgelobt, denn seine beschriebene Sogwirkung ist außergewöhnlich. Nicht einmalig, aber vielleicht für das Literaturjahr 2023 herausragend. Der große Erfolg setzt die junge Autorin gewiss unter Druck und es bleibt abzuwarten, ob sie diesem Stand halten kann und uns weitere hervorragende Romane bieten kann. Der Nachfolgeroman „Windstärke 17“, der das obige Rezept wiederholt und aus der Ich-Perspektive von Ida erzählt, hat mich nicht überzeugt. Ich kam über die ersten Seiten nicht hinaus.

Daniel Kehlmann, Über Leo Perutz

Zu teuer, zu kurz, zu überhöht, nicht zeitgemäß – und doch zu empfehlen.

In der Reihe „Bücher meines Lebens“ aus dem Verlag Kiepenheuer und Witsch, herausgegeben von Volker Weidermann, ist im September 2024 der kleine Titel „Über Leo Perutz“ von Daniel Kehlmann erschienen.

Nehmen wir mal das Vorwort, den Anhang und die Werbung außen vor, dann bezahlen wir Leser für neunzig Seiten ganze zwanzig Euro – das finde ich zu teuer, zu kurz.

Den neunzig Seiten angemessen versuche ich mich kurz zu fassen:

Der Klappentext läßt uns wissen, dass hier „Kehlmann über den unbekanntesten Grossmeister der deutschen Literatur: Leo Perutz“ schreibe. Wer sich mit Titeln auskennt weiß, etwas höheres kann es nicht geben und das erscheint mir zu überhöht, da Kehlmann es zum einen nicht begründen kann und ich mich frage, welchen Titel dann ein Thomas Mann, ein Goethe oder ein Kafka bekommen soll?

„Leo Perutz‘ Werk ist zur Gänze lieferbar, die Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit ihm, es hat Ausstellungen über ihn gegeben, es liegt eine profund recherchierte Biografie vor. Und dennoch ist Perutz, gemessen an seinem Rang, kaum bekannt“ schreibt Kehlmann zusammenfassend in seiner Einleitung und liefert damit ein vollkommen falsches Bild: nur eine kleine Teilmenge seiner Romane ist lieferbar, wichtige Novellensammlungen wie „Herr, erbarme Dich meiner“ nur antiquarisch erhältlich, die Theaterstücke gar nicht lieferbar und kaum ein Buchhändler (vermutlich kann ich mich trauen zu sagen: kein einziger) hat Titel von Leo Perutz vorrätig in seinem Sortiment – vielleicht gibt es bundesweit ein paar Ausnahmen die Perutz bekanntesten Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ präsentieren können.
Was Kehlmann hier auflistet sind Ausnahmeerscheinungen und keine Wiedergaben aus dem täglichen Feuilleton – in Wahrheit ist Leo Perutz einer der vielen vergessenen deutschsprachigen Autoren, die im Prag und Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Welt der Caféhäusern ihren ersten Ruhm genossen, heute aber nur im Antiquariat zu finden sind.
Hier würde ich Herrn Kehlmann auch gerne persönlich darauf aufmerksam machen wollen, dass nur weil ein Internetriese einen Titel noch auf Lager hat, heisst dies nicht, dass es auch tatsächlich noch im stationären Buchhandel erhältlich oder lieferbar ist.

Und dennoch ist dieses kleine Büchlein empfehlenswert, denn Daniel Kehlmann schreibt mit einer großen Liebe und Begeisterung über das Werk von Leo Perutz und kämpft so gegen das Vergessen dieser lesenswerten Autors. Kehlmann offenbart sich als glühender Verehrer von Leo Perutz und wandert in kleinen Kapiteln durch dessen Werk. Hierbei legt Kehlmann den Fokus auf den Inhalt der Geschichten und ihrem Plot – das, so stellt Kehlmann immer wieder klar, ist das bedeutendste an Perutz Werk.

Dem schließe ich mich an und ich kann Perutz „Nachts unter der steinernen Brücke“ nur jedem ans Herz legen. Eine großartige Novellensammlung, die sich am Ende zu einem einzigartigen Roman zusammenfügt, jede Novelle mit einem grandiosen, meist sehr überraschenden Plot.

Aber… nicht zeitgemäß ist die Sprache Perutz´. Eine schöne, elegante, langsame und warme Sprache, aber der heutige Leser – ob zwanzig oder vierzig Jahre alt – kann damit schon Probleme bekommen und muss sich zum Plot erst durchkämpfen:

„Im Herbst des Jahres 1589, als in der Prager Judenstadt das große Kindersterben wütete, gingen zwei armselige Spaßmacher, ergraute Männer, die davon ihr Leben fristeten, daß sie bei den Hochzeiten die Gäste belustigten, durch die Belelesgasse, die vom Nicolasplatz zum Judenfriedhof führte.“

So beginnt die erste Novelle „Die Pest in der Judenstadt“ in „Nachts unter der steinernen Brücke“ und mit diesen 250 Zeichen allein schon im ersten Satz sind zahlreiche Leser heute überfordert. Ich wünsche Perutz viele Leser und vielleicht kann Kehlmann ja mit seiner Hommage an Leo Perutz die Neugier und den Lesehunger wecken – ich wünsche es beiden.

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